zurück | israel palästina broschüre
Das schreckliche Jahr
Adam Keller aus der Broschüre „Nahostkonflikt ohne Ende?“ 17. April 2002

Genau ein Jahr, nachdem Ariel Sharon die Macht in Israel übernommen hatte, im März 2002, sagte Außenminister Peres am Ende einer angespannten Kabinettssitzung der Presse: „Wenn ich gewusst hätte, dass es soweit kommen würde, wäre ich der Regierung nicht beigetreten.“ „Soweit“ bezog sich auf eine fortlaufende Eskalation des israelisch-palästinensischen Konfliktes, täglich Dutzende von Opfern auf beiden Seiten, die größte Militäroperation der israelischen Armee seit 1982, eine wacklige Wirtschaft und ständig ansteigende Arbeitslosigkeit und zudem ein beständiges Stimmungstief im Staat.

Tatsächlich war es nicht schwierig, vorherzusagen, dass Sharon im Falle seiner Wahl Israel in diese Richtung führen würde. Auch die Arbeiterpartei hatte genau das in ihrer Wahlkampagne vom Januar 2001 vorausgesagt – wenn auch die Parteiführer das am Tag nach der Wahl zu vergessen schienen, als sie sich um den Festwagen des Siegers drängelten.

Die zukünftige Politik der Sharon-Regierung wurde bereits im November 2000 klar und verständlich in einem damals wenig beachteten Grundsatzpapier von Meir Dagan veröffentlicht, ehemaliger Brigadegeneral und Berater des damaligen Oppositionsführers Sharon. Wie vom Dagan-Papier empfohlen, zielte Sharons Politik darauf ab, die vom Osloer Abkommen geschaffenen Strukturen fortschreitend zu untergraben – insbesondere darauf, „vollständige operative Freiheit“ für israelische Truppen in den „A“-Gebieten zu erreichen, in denen Oslo den Palästinensern einen halbsouveränen Status zubilligte. Das Osloer Abkommen sollte nach dem Papier nicht offiziell aufgekündigt werden, um sich der Unterstützung der israelischen öffentlichen Meinung und der USA zu versichern und um nicht mehr als verbale Proteste der Europäer oder der arabischen Staaten hervorzurufen. Vor dem Hintergrund des früheren Scheiterns im Libanon, als Sharons Invasion von 1982 rasch die ganze Welt und einen großen Teil der israelischen Gesellschaft befremdete, die mit seinem Sturz endete und das Land in einen jahrzehntelangen Guerilla-Krieg verstrickte, hätte dieser Plan als äußerst unrealistisch verworfen werden müssen. Aber als Premierminister hat sich Sharon seit vielen Monaten als in hohem Maße erfolgreich bei der Umsetzung eben dieses Planes erwiesen – zur Verwunderung wie zum Schrecken seiner Opponenten.

An seinem ersten Tag im Amt verfügte Sharon eine „erstickende Schließung“ von Ramallah. Die internationalen und einheimischen Proteste zwangen ihn dann zwar dazu, die Maßnahme zu widerrufen. Aber innerhalb weniger Wochen war die herausragende Neuigkeit zur Routine geworden, alle palästinensischen Städte und Dörfer waren in immer engeren Belagerungen gefangen, und eine stetig steigende Anzahl von militärischen Kontrollpunkten und Straßensperrungen machte das Reisen auf den Straßen der West-Bank zu einem langwierigen, gefährlichen und erniedrigenden Abenteuer. Dies wurde offiziell mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, Selbstmordattentätern den Weg zu verstellen. Sonderlich effektiv waren die Maßnahmen allerdings nicht. Es dauerte Monate, bis hohe Militärs zugaben, dass der wahre Zweck darin bestand, „Druck auf die Bevölkerung auszuüben, damit sie auf Arafat dringt, die Intifada zu beenden“ (was ebenfalls nicht geschah).

Der selbe Vorgang wiederholte sich bei den anderen Druckmitteln, die unmerklich, Schritt für Schritt, tägliche Routine wurden: die Bombardierung palästinensischer Städte durch Hubschrauber und später durch F-16-Kampfflugzeuge mit schwereren Bomben; die Praxis, terrorismus-verdächtige Palästinenser zu ermorden („gezielte Tötungen“ oder „Liquidationen“ oder „extra-legale Hinrichtungen“), die Einfälle in palästinensisches Gebiet, das stetig wachsende Ausmaß militärischer Gewalt, die dabei angewendet wurde, und die Dauer, bis sie zu vollständigen Invasionen und Rückeroberungen der Gebiete wurden, die nach dem Oslo-Abkommen geräumt worden waren.

Sharon hätte nicht so lange durchkommen können, wenn nicht das verderbliche Erbe von Ehud Barak gewesen wäre. Sharons Vorgänger hatte sich als Führer des Friedenslagers präsentiert und enorme Hoffnungen geweckt – nur, um sie vollständig zunichte zu machen, zu erklären, dass ein Frieden unmöglich sei und die Verantwortung einzig und allein den Palästinensern zuzuweisen. Sharon wurde von einer überwältigenden Mehrheit in einer Atmosphäre gewählt, in der die Sache des Friedens gründlich diskreditiert, die Friedensbewegung auf eine Handvoll geschrumpft und die israelische Gesellschaft bereiter als je zuvor war, die Option roher Gewalt zu befürworten – eine Option, mit der Sharon mehr als jeder andere Politiker des mainstreams identifiziert wurde.

Die ideenlosen und diskreditierten Führer der Arbeiterpartei balgten sich um Posten in Sharons Kabinett und machten es zu einer „Regierung der nationalen Einheit“. Binyamin Ben-Eliezer übernahm das Verteidigungsministerium und trägt damit die Verantwortung für die tägliche Durchführung der Offensive gegen die Palästinenser. Der Nobelpreisträger Shimon Peres übernahm das Außenministerium, das auch die Funktion hat, als Sharons internationaler Propagandist aufzutreten, und erhielt im Gegenzug die Erlaubnis des Premierministers zu weitreichenden diplomatischen Initiativen – von denen keine die Chance hatte, zu irgend etwas zu führen.

Während der einjährigen Amtszeit hat Sharon keinen Friedensplan ausdrücklich zurückgewiesen. Und es gab viele davon: die kreativen Pläne seines eigenen Außenministers; der Bericht der Mitchell-Kommission; der Tenet-Plan, der darauf abzielte, Mitchell zu implementieren; die weiteren Pläne und Ideen, die den Zweck hatten, Tenet zu implementieren; die Vorschläge der allgegenwärtigen europäischen Gesandten; schließlich der weitreichende Plan des saudi-arabischen Kronprinzen Abdullah. Auf alle hatte Sharon eine Standardantwort: Im Prinzip willigte er ein, stellte aber in der Praxis unmögliche Bedingungen auf. Sein liebster Trick war es, „sieben Tage vollständiger Ruhe“ zu fordern, bevor Verhandlungen beginnen könnten, während er zugleich eine aggressive Militärpolitik führte, die den Beginn einer siebentägigen Waffenruhe ausschlossen.

Dabei hatte Sharon die volle Unterstützung des Stabschefs der Armee, Mofaz, und seines Stellvertreters Moshe Ya'alon. Die Generale waren immer aggressiver vorgegangen und hatten dies häufig gegenüber den Medien und dem politischen System vertreten, was mehr als einmal die dem Militär in einem demokratischen Staat gesetzten Grenzen zu sprengen schienen. Zu derselben Stunde, als Peres und Arafat sich am 26. August 2001 im Gazastreifen trafen und versuchten, eine Waffenruhe zu vereinbaren, töteten israelische Truppen sechs Palästinenser bei einem Einfall in die Stadt Rafah, nur ein paar Kilometer davon entfernt. Sie provozierten damit einen Kreislauf von Vergeltung und Widervergeltung und sorgten dafür, dass die Waffenruhe eine Totgeburt wurde.

Die Bemühungen des CIA-Chefs George Tenet, ein System der Sicherheitskooperation zwischen israelischen und palästinensischen Sicherheitsdiensten aufzubauen und damit Ruhe zu schaffen, wurde von israelischen Hubschraubern beantwortet, indem sie eine Rakete in ein Büro in Ramallah schossen, die Abu-Ali Mustapha, Chef der PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas) und Mitglied des PLO-Exekutivkomitees, auf der Stelle tötete. Er stand in der palästinensischen Hierarchie gerade eine Stufe unter Arafat.

Der bislang ersten Ermordung eines palästinensischen Führers auf Ministerebene folgte der Mord am israelischen Tourismusminister Rehav’am Ze’evi durch Mustaphas Anhänger. Ze'evi war jahrelang Vertreter des Konzepts des „Transfers“, d.h. der vollständigen Vertreibung der Palästinenser gewesen. Der Schock über die Ermordung eines Regierungsmitglieds verlieh Ze'evis rassistischer Ideologie eine Legitimation, die sie vorher nicht gehabt hatte, ebenso wie er Sharon einen idealen Vorwand dafür lieferte, eine große Invasion von sechs Städten der West-Bank zu starten und die Möglichkeit einer Sicherheitskooperation oder einer Waffenruhe für beträchtliche Zeit auszuschließen. Allerdings genehmigten Sharon und seine Minister keine weiteren Ermordungen von Palästinensern in Ministerfunktion.


Der Faktor des 11. September

Mit dem Eindringen von israelischen Truppen in die „A“-Gebiete versuchte Sharon eine Grundstruktur der Osloer Vereinbarung zu unterminieren. Washington war darüber zunächst alles andere als glücklich. In seinen ersten Monaten waren die USA lediglich bereit, begrenzte Einfälle israelischer Truppen in Randgebiete des palästinensischen Territoriums zu tolerieren, die als „Nachverfolgung“ erklärt werden konnten und in einigen Stunden beendet waren, ohne dass Washington dies offiziell zur Kenntnis nehmen musste. Bei einer bemerkenswerten Gelegenheit, die sich im Rückblick ziemlich harmlos ausnimmt, drangen israelische Truppen zwei Kilometer weit in palästinensisches Territorium im nördlichen Gazastreifen vor und bezogen in unbewohntem Gelände außerhalb der Stadt Beit Hanoun Stellung. Da sie noch zur Zeit der täglichen Pressekonferenz im State Department dort waren, stellten einige Journalisten peinliche Fragen, die dazu führten, dass Außenminister Powell Sharon anrief und ihn abkanzelte, woraufhin die Truppen sofort zurückgezogen wurden (s. The Other Israel 98, S. 3). Einige Monate lang musste Sharon die „A“-Gebiete als außerhalb seiner Reichweite anerkennen und sich damit zufrieden geben, nach dem Orienthaus zu greifen, dem palästinensischen Hauptquartier in Ostjerusalem, das seit 1991 de facto einen extraterritorialen Status genoss, und dessen Besetzung als Polizeiangelegenheit bezeichnet werden konnte.

Der große Durchbruch kam aus Sicht des Premierministers mit den unerwarteten und katastrophalen Ereignissen des 11. September, die die USA in den Wahn des „Krieges gegen den Terror“ stürzten. Als Sharon die „Ze’evi-Invasion“ begann und Teile von sechs Städten der West Bank durch Panzer besetzen ließ, wobei es bei den Palästinensern zu beträchtlichen Verlusten kam und insbesondere in Bethlehem viel zerstört wurde, war die USA bereits selbst tief in einer Haltung befangen, die sie sowohl auf dem Leben von Zivilpersonen als auch auf internationalen Übereinkünften herumtrampeln ließen, um „Krieg gegen den Terror“ zu führen. Insbesondere Verteidigungsminister Rumsfeld zeigte sich als rückhaltloser Unterstützer von Sharon.

Außenminister Powell, die einzige Stimme der Mäßigung in der Bush-Administration, war zu der Zeit damit beschäftigt, diplomatische Unterstützung in der arabischen und islamischen Welt zu mobilisieren, wozu eine Geste gegenüber den leidgeprüften Palästinensern angezeigt schien. Das Resultat der widerstreitenden Interessen war eine lauwarme Missbilligung von Sharons Besetzung der sechs Städte, die ihn aufforderte, seine Truppen zurückzuziehen, ihm aber mehrere Wochen Zeit gab, die Operation durchzuführen. Präsident Bush wies Vorschläge der arabischen Staaten zurück, Arafat während der Beratungen der UNO-Generalversammlung zu treffen, billigte aber eine Grundsatzrede von Außenminister Powell in Louisville, Kentucky, in der einige Punkte offenbar den palästinensischen Empfindlichkeiten entgegenkommen sollten: die Verurteilung der israelischen Besetzung, die „ausbalanciert“ wurde mit der Verurteilung des palästinensischen Terrorismus; die deutliche amerikanische Zustimmung zur Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates (wenngleich ohne die exakte Grenze zu definieren); und die Entsendung eines neuen amerikanischen Vermittlers, des ehemaligen Generals Anthony Zinni.

Der unerwartet rasche Zusammenbruch des Taliban-Regimes in Afghanistan führte in Washington zu einer Euphorie, und Powells Versuche, die arabischen Regimes und die öffentliche Meinung durch Gesten für die Palästinenser zu besänftigen, wirkten plötzlich überflüssig. Die Änderung der US-amerikanischen Haltung wurde durch eine sehr wirksame neue Provokation Sharons perfekt gemacht.


Sharons große Zeit

Vier Tage vor der Ankunft des Gesandten Zinni – am 23. November 2001 – feuerten israelische Hubschrauber Raketen auf ein palästinensisches Auto in der Nähe von Nablus, wobei ein Mann namens Abu Hunud getötet wurde. Er war ein prominenter Hamas-Führer, sehr populär bei den palästinensischen Massen, vor allem, weil er einigen früheren Anschlägen entkommen war – kurz, ein Mann, für dessen Ermordung Vergeltung gewiss war. Die Auswirkungen wurden zwei Tage später in einem bemerkenswert kritischen Artikel des Sicherheitsexperten Alex Fishman erläutert, der am 25. November 2001 herausgehoben auf der Titelseite der größten israelischen Tageszeitung Yediot Aharonot erschien und der augenscheinlich die Meinung dissidenter Kreise in Armee und Sicherheitsdiensten wiedergab.

„Wer immer für diese Liquidation grünes Licht gab, wusste sehr gut, dass er dadurch mit einem Schlag die Übereinkunft zwischen Hamas und Palästinensischer Autonomiebehörde zunichte machte. Nach dieser Übereinkunft hatte Hamas in der nächsten Zukunft Selbstmordattentate innerhalb der Grünen Linie – der Grenze vor 1967 – zu unterlassen, um nicht Israel in die Hände zu spielen, indem sie Angriffe auf seine Bevölkerungszentren unternimmt. Diese Einsicht wurde jedoch von dem vorgestrigen Attentat zerstört – und wer immer die Liquidation von Abu bestimmt hat, wusste im Voraus, dass das der Preis sein würde. Dies war ausführlich sowohl in Israels militärischer wie auch politischer Hierarchie diskutiert worden, bevor man sich entschieden hat, die Liquidation auszuführen.“

Die Vergeltung kam planmäßig, gerade als Zinni seine ersten diplomatischen Anstrengungen unternahm: am 1. Dezember sprengten sich zwei Hamas-Selbstmordattentäter in Jerusalem und Haifa in die Luft, wobei insgesamt 26 israelische Zivilisten ums Leben kamen. In Israel war man allgemein schockiert und wütend.

Das kam Sharon hervorragend zupass, der Zinni umging, sich direkt ans Weiße Haus wandte und einen Besuch durchführte, der an einen Triumphzug erinnerte. US-Amerikanische Offizielle, bis hin zu Präsident Bush selbst, übertrafen einander in öffentlichen Denunziationen Arafats und der Palästinenser, die nun als die Bösen im kosmischen Kampf gegen den Terrorismus heruntergemacht wurden. Sharon erhielt praktisch freie Hand für ein militärisches Vorgehen gegen die Palästinenser, unter der Bedingung, „Arafat nicht zu töten oder die Palästinensische Autonomiebehörde vollständig zu demontieren“.

Mit dieser Rückendeckung vom Präsidenten der Vereinigten Staaten konnte es sich Sharon leisten, nun eine offen herablassende Haltung zu seinem Außenminister einzunehmen, und durchs Kabinett zu drücken, was auf eine Kriegserklärung gegen die „den Terrorismus unterstützende“ Palästinensische Autonomiebehörde hinauslief und Arafat als Partner für jede zukünftige Verhandlung ausschloss. Wie Sharon es erwartet hatte, wagten Peres und die anderen Minister der Arbeiterpartei nicht, zurückzutreten. Sie gaben sich mit macht- und zwecklosen Protesten zufrieden.

Die Panzer kehrten in die palästinensischen Städte zurück, die sie erst ein paar Wochen vorher verlassen hatten – diesmal mit offiziellem Segen der USA, die das Vorgehen als „einen Akt der Notwehr“ adelten. Zur selben Zeit wurden palästinensische Städte intensiv bombardiert. Einrichtungen der palästinensischen Polizei und der Sicherheitsdienste – eben die Polizei und die Sicherheitsdienste, die Arafat gegen den Terrorismus einsetzen sollte – wurden systematisch zerstört, ebenso die Symbole der angehenden palästinensischen Souveränität: israelische Panzer und Bulldozer besetzten und zerstörten den internationalen Flughafen von Gaza, der drei Jahre zuvor feierlich von Präsident Bill Clinton eingeweiht worden war. Hubschrauber und Kommandoeinheiten zerstörten die Antennen und Studios der Stimme Palästinas und des palästinensischen Fernsehens (die allerdings aus anderen Gebäuden weiter sendeten). Alle diese Angriffe endeten gemäß der US-amerikanischen Anweisung kurz vor dem Büro in Ramallah, in dem sich Arafat tatsächlich aufhielt. Israelische Panzer rückten aber bis auf Sichtweite heran und richteten ihre Kanonen direkt auf Arafats Fenster. „Arafat wird Ramallah bis auf weiteres nicht verlassen, zuerst muss er seine Entschlossenheit, den Terrorismus zu bekämpfen, beweisen, indem er die Mörder von Minister Ze'evi festnimmt“, verkündete Sharon.

Die israelischen Soldaten an den Straßensperren, welche Ramallah eng umgaben, wurden angewiesen, palästinensische Autos gründlich zu durchsuchen, „damit Arafat nicht versucht, sich aus der Stadt zu schmuggeln“, und die militärische Anweisung wurde hämisch an die Medien weitergegeben. Die physische Belagerung Arafats wurde von einer „politischen Belagerung“ begleitet. Eine massive Kampagne der Verleumdung und Dämonisierung wurde gestartet, die sogar die Ausdrücke auf die Plätze verwies, die in der Prä-Oslo-Ära gebraucht wurden, als ein israelisches Gesetz Arafat zum „Erzterroristen“ erklärte und jedem eine Gefängnisstrafe androhte, der ihm die Hand gereicht hatte. Respektable Kommentatoren, in Israel wie im Ausland, schrieben enorme Mengen von Artikeln, die von der Prämisse ausgingen, dass Arafats Laufbahn zu Ende gehe, und begannen über die Umrisse einer Zeit nach Arafat zu spekulieren. Ideen, wie die Errichtung eines palästinensischen Marionettenregimes, die Zerstückelung der Palästinensischen Autonomiebehörde in isolierte Kantone, die von bittstellerischen warlords regiert würden, oder die Wiedereinführung der direkten israelischen Militärherrschaft machten die Runde und wurden als alternative Szenarien für konkrete politische und militärische Aktionen ernstgenommen.

Die Anti-Arafat-Kampagne hatte merklichen internationalen Erfolg, indem sie die Europäische Union – bis dahin die wichtigste Unterstützung der Palästinenser auf internationaler Ebene – dazu brachte, harte Forderungen zur „Bekämpfung des Terrorismus“ an Arafat zu stellen, begleitet von kaum verhüllten Drohungen, die diplomatische und finanzielle Hilfe einzustellen. Dies warf mehr als alles andere ein Licht auf die schlimme Klemme, in der die Palästinenser steckten.


Arafats Akrobatik

Im Gegensatz zu einigen weitverbreiteten Beschreibungen seines Charakters ist Yasser Arafat ein Führer, der durchaus in der Lage ist, harte Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und mit Entschiedenheit darauf zu reagieren. In dieser besonderen Sackgasse entschloss sich Arafat am 16. Dezember 2001, den Stier bei den Hörnern zu packen und eine Rede zu halten, in der er sein Volk zu einer vollständigen Waffenruhe aufrief. Ohne irgendein Ergebnis nach einem Jahr schrecklicher Entbehrungen und täglicher Opfer seines Volkes und ohne die geringste Sicherheit, dass eine Waffenruhe wenigstens den Rückzug der israelischen Panzer vor Arafats eigenem Fenster zur Folge haben würde, muss es eine äußerst schwierige Entscheidung gewesen sein. Dennoch tat er es, und das war ein Wendepunkt. Die Palästinenser hörten die Rede in ihren Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern. Die Israelis hörten ihr ebenfalls aufmerksam zu, trotz all dem Regierungsgerede, wonach Arafat „irrelevant“ geworden sei (die Rede wurde im israelischen Radio live übertragen und simultan übersetzt). Und obwohl Regierungssprecher sie mit allen Mitteln herabzuwürdigen suchten, konnte die Hoffnung auf ein Ende der Furcht und des Blutvergießens nicht völlig gelöscht werden.

In den folgenden Tagen ging die Zahl der Konfrontationen und Zwischenfälle jäh zurück. Die palästinensische Polizei und die Sicherheitsdienste arbeiteten gewissenhaft, um die Waffenruhe bei allen Fraktionen und Milizen durchzusetzen – und das gleiche tat, zur Verwunderung einiger Beobachter, die auf ihre Unabhängigkeit bedachte Tanzim-Miliz von Arafats Fatah-Partei. Was immer ihre privaten Vorbehalte sein mochten, die Tanzim-Führer in den verschiedenen Städten – die den größten Teil der Kämpfe in den vergangenen Monaten getragen hatten – befolgten die Anweisungen ihres Oberkommandos für eine Waffenruhe.

Wie zu erwarten, war die Hamas schwieriger zu überzeugen. Es gab bewaffnete Konfrontationen, als die palästinensische Polizei die Hamas-Hochburgen in Gaza betrat, bei denen sechs Palästinenser in internen Kämpfen getötet wurden. Aber auch die Hamasführung war sich der schwierigen Situation bewusst, die entstand, nachdem sie in Sharons Falle gegangen war, und sie hatte nicht die Absicht, die Lage noch zu verschärfen, indem sie Sharon das Schauspiel eines richtiggehenden palästinensischen Bürgerkriegs bot. Nach zwei Tagen voller Zusammenstöße in Gaza führten Versöhnungsgespräche zwischen der Hamas-Führung und der Palästinensischen Autonomiebehörde zu einer formellen Zusicherung der Hamas, alle weiteren Selbstmordanschläge auszusetzen.

In den folgenden blutigen Zeiten schien es manchmal unglaublich, dass wir erst vor kurzem eine solche Periode erlebt haben. Für etwa einen Monat im späten Dezember und frühen Januar gab es kaum israelische Opfer, mit der bedeutenden Ausnahme der vier unglücklichen Soldaten, die bei einem Guerilla-Überfall auf einen isolierten Außenposten im Gazastreifen getötet wurden – der einzige klare Bruch der Waffenruhe von palästinensischer Seite. (Es gab während der Waffenruhe bei verschiedenen Zwischenfällen mehr palästinensische Opfer durch israelisches Feuer, die weniger Aufmerksamkeit durch die Medien erhielten.) Am Wichtigsten aus Sicht des durchschnittlichen Israelis war: Es war eine Zeit ohne jedes Selbstmordattentat, in der die tägliche Lebensbedrohung auf den Straßen jeder Stadt zurückzugehen schien.

Sharon hätte sich das aufs Konto schreiben können. Er hätte beanspruchen können, die Intifada zerschlagen zu haben und bewiesen zu haben, dass der entschlossene Einsatz militärischer Gewalt Ergebnisse gebracht hat. Es wäre schwierig gewesen, ihn zu widerlegen. Aber er tat nichts dergleichen. Vom ersten Tag an war er sichtbar unglücklich über die Waffenruhe, spöttelte darüber, übertrieb jeden kleinen Verstoß und Zwischenfall und tat was er konnte, um sie zu diskreditieren und schließlich zu zerstören.

Natürlich hatte er seine Gründe. Die Anerkennung, dass die Waffenruhe tatsächlich hielt, hätte ihn verpflichtet, ernsthaft den Verhandlungsweg zu beschreiten. Es hätte bedeutet, die Mitchell-Empfehlungen umzusetzen, darunter die Verpflichtung eines vollständigen Baustopps in den Siedlungen – was zu einer direkten Kollision mit seinen Koalitionspartnern von der extremen Rechten geführt hätte. Und es ging gegen den Strich seiner eigenen Ideologie und jahrzehntelangen Laufbahn. Und all das wäre bloß die Einleitung zu weiteren weitreichenden Konzessionen gewesen, die Sharon offensichtlich keinesfalls machen wollte.

Über all solchen rationalen Erwägungen hinaus jedoch scheint Sharon eine Vendetta mit Arafat begonnen zu haben, den gehassten Feind, der 1982 seinem Griff entwischt war und den er nicht noch einmal entkommen lassen wollte. Nachdem er die USA schon so weit gebracht hatte, schien es im Dezember ganz realistisch zu sein, dass ihm nur noch eine weitere Provokation die Erlaubnis aus Washington einbringen würde, zum Gnadenstoß anzusetzen. „Endlich hat Arik Arafats Hals in der Guillotine, er wird ihn da nicht wieder rauslassen“, wie ein nicht namentlich genannter Berater Sharons in Yediot Aharonot zitiert wurde.

Und so lehnte Sharon es glattweg ab, die Belagerung Arafats zu lockern, sogar als sich eine gute Gelegenheit zeigte, bei der er sein Gesicht nicht verloren hätte – Weihnachten, die Zeit, in der Arafat üblicherweise von den christlichen Autoritäten in die Geburtskirche in Bethlehem eingeladen wird. Indem er Aufrufe des Vatikan, der Europäer, Präsident Katzavs und der Minister der Arbeiterpartei zurückwies, hinderte Sharon Arafat daran, sich auf den kurzen Weg von Ramallah nach Bethlehem zu machen (eine halbe Stunde unbehinderter Autofahrt, ein paar Minuten Flugzeit). Während die Fernsehkameras die Messfeierlichkeiten in Bethlehem rund um die Welt übertrugen, konzentrierten sie sich auf den leeren Stuhl mit der Aufschrift „Yasser Arafat, Präsident von Palästina“. Sharon beharrte auf der Behauptung, dass die Belagerung Arafats in Ramallah ihn schwächen würde. Tatsächlich steigerte sie seine Beliebtheit unter seinen eigenen Leuten enorm. Es ist klar, dass ein Volk, das täglich Entbehrungen wegen der strengen Beschränkungen seiner Bewegungsfreiheit erleidet, keinen besseren Bezugspunkt für Kampagnen finden kann als einen Führer, dessen Bewegungsfreiheit ebenfalls beschnitten wird und der dieser Situation mit stolzem Trotz begegnet. Arafats Popularität unter den Palästinensern stieg enorm an, und sein belagertes Hauptquartier in Ramallah wurde der Schauplatz von täglichen Massenbesuchen von Palästinensern, die bewegende Kundgebungen in der Halle abhielten, von deren Fenstern aus die Panzer zu sehen waren. Der Ort wurde auch von einigen internationalen Delegationen besucht, und zu Sharons Verdruss ebenfalls von einigen israelischen Friedensaktivisten.


Hudna

Der Geist der Waffenruhe ergriff eine Person, von der man das nicht erwartet hätte: Israels Präsidenten Moshe Katzav, der bis zu seiner Erhebung in seine gegenwärtige (reine formale) Position ein durchschnittlicher Falke gewesen ist, der aber ein Verlangen entwickelt zu haben scheint, eine bedeutendere Rolle zu übernehmen, als Banketten zu präsidieren. Katzav scheint diese Chance durch eine kreative Initiative des einzelgängerischen Journalisten/Geschäftsmanns/Friedensaktivisten Eyal Ehrlich bekommen zu haben. Auf einer Geschäftsreise nach Jordanien hatte Ehrlich die Gelegenheit, aus erster Hand die Verfahren einer Hudna zu beobachten – das Vorgehen, mit dem in traditionellen islamischen Gesellschaften Fehden beendet werden, und in dem der Versöhnungsbesuch der Klanältesten beim gegnerischen Klan die Schlüsselrolle spielt. Davon inspiriert, die Formen der Hudna auf den israelisch-palästinensischen Konflikt anzuwenden, kam Ehrlich auf die Idee, den Präsidenten Israels vorm Palästinensischen Legislativrat mit einer Versöhnungsrede auftreten zu lassen, die zur formellen Erklärung eines einjährigen Waffenstillstandes führen würde und die die Atmosphäre für neuerliche Friedensverhandlungen schaffen sollte. Ehrlich wandte sich über verschiedene Vermittler sowohl an Katzav als auch an Arafat und erhielt eine positive Antwort; aber sobald über die Idee in den Medien berichtet wurde, beeilte sich Sharon, seine totale Ablehnung auszudrücken. Obwohl formal Staatsoberhaupt, ist der Präsident – wie ein konstitutioneller Monarch – an die Politik der gewählten Regierung gebunden, und Katzav hatte keine Wahl, als sich dem Veto des Premierministers zu fügen, wenn er auch unglücklich darüber war.

Noch bevor Gras über die Katzav-Affäre wachsen konnte, wurde der Öffentlichkeit eine ganz andere Sensation präsentiert: das Radio- und Fernsehprogramm wurde für eine spezielle Pressekonferenz unterbrochen, die Premierminister Sharon, umgeben von Generalen und Admiralen, zeigte. Eine sensationelle Nachricht wurde bekannt gegeben: Israels Küstenwache hatte soeben im Roten Meer ein palästinensisches Schiff aufgebracht, ein Schiff, bis zu den obersten Schiffsplanken beladen mit Munition, die in den Gazastreifen geschmuggelt werden sollte. Die tapfere Küstenwache, so wurde gesagt, hatte ihr Land aus ernster Gefahr gerettet, da die Waffen den Palästinensern „einen strategischen Vorteil“ hätten verschaffen können, und die ganze Angelegenheit bewies die Perfidie und Treulosigkeit der Palästinenser im Allgemeinen und Arafats im Besonderen.

Die Geschichte sorgte einige Tage für Schlagzeilen, obgleich die Öffentlichkeit seltsam ungerührt schien von der Welle zentral entfachten patriotischen Zorns. Ein bilderstürmerischer Artikel des Schriftstellers David Grossman in Ha'aretz erinnerte daran, dass die jüdischen Milizen vor 1948 sich mit genau derselben Form des Waffenhandels beholfen hatten, und wies darauf hin, dass ein einziger IDF-Panzer mehr Munition trägt als das ganze Schiff, von einer F-16 zu schweigen; und Grossman folgten einige andere dissidente Stimmen in den Medien, auch ein paar im politischen System.

Dennoch erreichte Sharon etwas mit der Schiffsaffäre; nach anfänglichem Widerstreben nahm sich die US-Administration der Sache an, als israelische Geheimdienstoffiziere nach Washington flogen, um Beweise vorzulegen, dass die palästinensische Konterbande aus dem Iran stammte, einem Teil von Präsident Bush's „Achse des Bösen“. Es folgte eine neue Welle amerikanischer Beschuldigungen und Drohungen gegen die Palästinenser, und der zweite Besuch des Gesandten Zinni in der Region war ein ebenso trüber Misserfolg wie der erste.

Inzwischen unternahm die Armee einen Einfall in das Rafah-Flüchtlingslager im Gazastreifen, über den weithin berichtet wurde, und zerstörte etwa 60 oder 70 palästinensische Häuser in einer einzigen Nacht (Die genaue Zahl blieb umstritten). Die Fotos von Kindern, die in den Trümmern ihrer zerstörten Häuser herumirren, berührten das Gewissen Israels wie nur weniges im vergangenen Jahr. Die Regierung sah sich als Ziel schneidender Kritik in der Presse, darunter von Kolumnisten, die bis dahin geschwiegen hatten und von einigen, die in der Vergangenheit Sharon unterstützt hatten. Die Erklärungen der Armee, wonach die zerstörten Häuser „unbewohnt“ waren, und dass ihre Schleifung „eine operative Notwendigkeit“ gewesen sei, fand außerhalb der extremen Rechten wenig Glauben. Nach drei Tagen war Sharon zu einer vage formulierten Entschuldigung und dem Versprechen, es nicht wieder zu tun, gezwungen. Am selben Tag – Montag, den 14. Januar – beendete er entschlossen die Waffenruhe.


Ein Mordanschlag zuviel

In den lange vergangenen Tagen von vor drei Jahren, als ein israelisch-palästinensischer Friedensvertrag nahe bevorzustehen schien, fand ein Treffen nördlich von Tel-Aviv statt, an dem jüngere Mitglieder der damals regierenden israelischen Arbeiterpartei und ihre Gegenstücke aus der Fatah teilnahmen, Arafats wichtigster Basis in der Palästinensischen Autonomiebehörde. Einigen Berichten zufolge, die später scharf dementiert wurden, war unter der palästinensischen Delegation ein junger Mann aus Tulkarem namens Ra’ed Karmi. Zu der Zeit hatte der Name keine besondere Bedeutung, und falls er wirklich dabei war, machte er keinen besonderen Eindruck auf seine israelischen Gesprächspartner. In den turbulenten Zeiten nach dem Ausbruch der Intifada hatten wiederholt gezielte Tötungen durch die israelische Armee und Sicherheitsdienste in Tulkarem offene Stellen an der Spitze der lokalen Führung hinterlassen. Ra'ed Karmi entpuppte sich dort schließlich als beachtliches militärisches Talent mit Charisma. Innerhalb eines Jahres war er der unbestrittene Führer der örtlichen Miliz.

Seitdem stand er auch an prominenter Stelle der Meistgesuchten auf der israelischen Liste, angeklagt der Beteiligung an der Ermordung von neun unschuldigen israelischen Zivilpersonen, als Vergeltung für vorhergehende Attentate. In den letzten Monaten des Jahres 2001 überlebte Ra'ed Karmi einige israelische Attentatsversuche, was auch in diesem Fall seinem Ruf nicht schadete. Er war sich sehr bewusst, nur mit einer geliehenen Zeit zu leben. Ein Team eines israelischen Fernsehsenders, das unter seiner persönlichen Sicherheitsgarantie nach Tulkarem kam, filmte ihn, wie er mit einem Gewehr in der Hand offen durch die Hauptstraße der Stadt spazierte. In einem Interview, das an diesem Tag in den israelischen Wohnzimmern zu sehen war, sagte er: „Ich fürchte nicht die Ermordung. Mein Schicksal liegt in Gottes Hand. Wenn ich falle, werden sich meine Kameraden für mich rächen, wie ich die gerächt habe, die vor mir kamen.“ Palästinensische Quellen sagen, dass Ra'ed Karmi die Entscheidung von Arafat, einen Waffenstillstand auszurufen, voll unterstützte und half, dass er in dem von ihm kontrollierten Gebiet auch umgesetzt wurde. Israelische Sicherheitskräfte sagen, dass er an dem Morgen des 14. Januar 2002, als er durch eine von Israel gelegte Falle getötet wurde, terroristische Aktionen plante – die gleiche Erklärung gab es bei den anderen Dutzenden von Ermordeten, und wie in den anderen Fällen wurde kein Beweis dafür erbracht.

Sicherlich war Ra'ed Karmi kein unschuldiges Opfer, wie viele der anderen 1.400 Palästinenser und Israelis, die in den anderthalb Jahren blutiger Konfrontation getötet worden sind. Genauso sicher konnte es keinen Zweifel daran geben, dass seine Ermordung den Waffenstillstand zerstören und eine Spirale von Rache und Blutvergießen auslösen würde. Es war eine Wiederholung der Ermordung von Abu-Hunud und der damit verbundenen Konsequenzen, aber mit einigen bedeutenden Unterschieden. Zum einen gab es nicht erst eine Woche später palästinensische Vergeltungsakte, sondern schon innerhalb von wenigen Stunden. Und dieses Mal waren es nicht die Militanten der Hamas, die an vorderster Linie daran beteiligt waren, sondern die Tanzim-Milizen, Arafats eigene Gefolgsleute.

Am Wichtigsten ist, die Aktion eines Mordanschlages wurde einmal zu viel benutzt und dieses Mal richtete sich der öffentliche Blick darauf. „Ermordungen führen zu Selbstmordattentaten“ rief die Jugend von Peace Now in schnell einberufenen Kundgebungen vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv und der Residenz des Premierministers in Jerusalem. Die gleiche Nachricht wurde in Erklärungen aller Organisationen der Friedensbewegung wiederholt und erschien nicht länger nur in Zeitungsanzeigen von Gush Shalom. Sie tauchte in den Parlamentsreden und Presseerklärungen von Yossi Sarid auf, dem offiziellen Oppositionschef, in verschiedenen Artikeln und Kommentaren und sogar (in einer weniger ausdrücklichen Form) als Äußerung von Außenminister Peres. Das machte einen großen Unterschied.

Im Gegensatz zur bisherigen Spirale der Gewalt sah die israelische Gesellschaft dieses Mal, dass die Schuld nicht bei den Palästinensern und nur bei den Palästinensern lag. Im Oktober 2000 wurde den Israelis erzählt – und fast alle glaubten es – dass Barak den Palästinensern ein großzügiges Angebot gemacht habe und dass sie mit Ablehnung und Gewalt reagiert hätten. Nun konnten viele sehen, dass Arafat einen Waffenstillstand ausgerufen hatte und dieser von Sharon gebrochen wurde. Es war zu dieser Zeit, als die Friedensbewegung aus der Versenkung herauskam, in der sie sich seit Oktober 2000 befand. Kundgebungen und Demonstrationen wurden größer und größer. Neue Friedensgruppen schossen aus dem Boden. Die Weigerung von Soldaten und Offizieren, in den besetzten Gebieten zu dienen, war zentrales Thema in der Öffentlichkeit. So geschah es auch mit dem Tabu, dass „unsere“ Soldaten in Kriegsverbrechen verwickelt sein könnten, die tägliche Praxis der Armee in den besetzten Gebieten schwere Verletzungen des Völkerrechts verursachen könnte. Und radikale Ideen erhielten die Sympathie einer gewichtigen Minderheit, wie es sich bei den 25 Prozent bemerkbar machte, die die Verweigerer unterstützen.

Sharons bis jetzt unerschütterte Popularität nahm schnell ab. Die Atmosphäre einer nationalen Einheit, wie sie über das Jahr 2001 vorherrschte, löste sich auf und wurde durch eine dissidente und oft verletzende Debatte ersetzt – die auf der anderen Seite des politischen Spektrums auch den Aufruf zur Wiedereroberung der palästinensischen Städte und die offene Befürwortung von ethnischer Säuberung (Bevölkerungstransfer) beinhaltete, ein Aufwallen des rechten Flügels. In der Arbeiterpartei wurde die Minderheit, die die Partei zum Verlassen der Regierung von Sharon aufrief, aktiver und hörbarer. Ihre Kampagne beeinflusste auch Teile der Partei, die opportunistischer sind. Verteidigungsminister Ben Eliezer, kürzlich in heftigsten parteiinternen landesweiten Kämpfen gewählter Parteiführer, bemühte sich, ein bisschen sanfter zu erscheinen – in einigen Nuancen, wie der Dauer der militärischen Offensive gegen die Palästinenser und der Zahl der daran beteiligten Militärkräfte – nachdem ihm geraten wurde, dass er wohl kaum Chancen auf einen Wahlsieg habe, wenn er „eine Kopie von Sharon“ sei. Knesset-Sprecher Avraham Burg, ein Mann, der seine politische Karriere als Aktivist bei Peace Now begann und später seinen Ton beträchtlich änderte, sprach nun die Linie aus, „die korrupte Besetzung“ zu verurteilen und stellte fest, dass die Lösung „ein Austausch des gesamten Gebietes gegen einen vollständigen Frieden“ sein würde. Burg befasste sich auch mit einer Frage, die Präsident Katzav außen vor ließ und erklärte seine Absicht, sich an das palästinensische Parlament in Ramallah zu wenden. Er kündigte an – im Gegensatz zum Präsident – dass er entschlossen sei, auch gegen den Willen des Premierministers dorthin zu gehen. Burg weckte damit großen Ärger in der parlamentarischen Rechten, wo ohne Erfolg Versuche unternommen wurden, ihn von seiner Position als Sprecher zu entbinden und er erhielt zugleich erhebliches Ansehen in seinem Wahlkreis. Bis zum Abschluss dieses Artikels ist er aber nicht nach Ramallah gegangen.


Abfallende Spirale

Die Unzufriedenheit mit Sharon als Premierminister ist auch durch die sich verschlechternde ökonomische Lage beeinflusst. Die Arbeitslosigkeit erreicht neue Rekorde, immer mehr Fabriken und Unternehmen schließen und die Ökonomen sagen wenig oder gar kein Wachstum für 2002 voraus. Die Wochen des Waffenstillstandes erlaubten der Öffentlichkeit, sich für einige Zeit den sozioökonomischen Themen zuzuwenden. Während es keine Schießereien gab, kündeten die Schlagzeilen von dem verbitterten Protest von Arbeitern gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze. Ein militanter Kampf von Behinderten, als sie in ihren Rollstühlen einen einmonatigen Sitzstreik vor dem Finanzministerium durchführten und eine Anhebung ihrer Beihilfe einforderten, erhielt viel größere öffentliche Sympathie. Der verspätet zusammengeflickte Etat brachte den Armen Israelis keinen Schimmer Hoffnung, obwohl sie die wichtigste Wählerbasis für die Likudpartei von Sharon sind.

Auf vielfältige Weise könnte die ökonomische Krise auch auf den andauernden Konflikt zurückgeführt werden. Seit dem Ausbruch der Intifada liegt der Tourismus – ein Standbein der israelischen Ökonomie – darnieder. Israel ist für ausländische Investoren viel weniger attraktiv geworden, viele von ihnen zögern sogar, für einen kurzen Besuch zu kommen – und erst recht, ihr Geld in einem solch gefährlichen Land zu investieren. Angst vor Selbstmordattentaten brachte viele Israelis dazu, die Innenstädte zu meiden, was zu einem Kollaps der Geschäfte, Cafes und Restaurants führte. Das griff von Israel aus auch auf die palästinensische Wirtschaft über, welche durch die Verhängung der Blockaden, die Belagerung und Reisebeschränkungen praktisch zerstört ist, und wendet sich dann wieder gegen Israel. Mit der allgemeinen Armut der palästinensischen Bevölkerung und ihrem Verlust der Kaufkraft stehen die israelischen Firmen, die vom Export auf den palästinensischen Markt abhängig sind, am Rande des Konkurses.

Im Ganzen schätzen Regierungsökonomen die Verluste durch die Konfrontation mit den Palästinensern auf fünf Milliarden Dollar. Im Januar begannen die Meinungsumfragen anzuzeigen, dass die Öffentlichkeit massiv Vertrauen in die Fähigkeiten Sharons verliert, die Ökonomie zu leiten, während sie ihm weiter als militärischen Führer vertraut. Eine Woche später, als das gegenseitige israelisch-palästinensische Blutbad schlimmer und schlimmer wurde und Sharon offensichtlich keine Lösung dafür hatte – und mit der zugleich weiter abrutschenden Wirtschaft – begann die Öffentlichkeit, an Sharons Glaubwürdigkeit in allen Beeichen zu zweifeln. Ein Versuch des Premierminister, sich im Fernsehen „an die Nation zu wenden“ und seine zentrale Aussage, „sowohl die Sicherheitslage, wie auch die ökonomische Situation sind schlecht, der Kampf, beide zu verbessern, wird lange dauern, aber wir müssen alle geduldig, standfest und vereint sein, damit wir am Ende gewinnen“, wurde mit Hohn begrüßt und einem Sinken seiner Popularität.


Tontaubenschießen

Gleich nach der Ermordung von Ra'ed Karmi kam ein palästinensischer Schütze in die israelische Stadt Hadere und tötete in einem Feuerhagel sechs unschuldige israelische Familienangehörige. In den darauf folgenden Wochen schien die Führung der Fatah-Tanzim-Milizen aber entschieden zu haben, ihre Guerillaangriffe auf Soldaten und Siedler in den besetzten Gebieten zu konzentrieren. Dem folgten zumeist die anderen palästinensischen Organisationen. Das führte zu einer Änderung der öffentlichen Atmosphäre in Israel. Israelis betrauern sicherlich die in den besetzten Gebieten getöteten Soldaten, solche palästinensischen Aktionen tragen aber nicht zu ähnlichem moralischen Widerwillen und Abneigung bei, wie Angriffe auf Zentren der israelischen Bevölkerung.

Palästinensische Kämpfer scheinen die klassische Maxime der Guerilla aufzunehmen: Meide deinen Feind, wo er stark und wachsam ist, greife ihn unerwartet an seinen schwachen Punkten an – und insbesondere die Lehren und Methoden des Feldzugs der Hisbollah gegen die israelische Besatzung des Südlibanon zu befolgen.

Im Gaza-Streifen beobachteten Guerillas genau den täglichen Weg israelischer Konvois zu den Siedlungen von Netzarim, einer bewaffneten Enklave direkt im Süden von Gaza-Stadt. Eine wohlplatzierte explosive Ladung zerstörte einen an der Spitze des Konvois fahrenden israelischen Panzer vom Typ Merkava, der bis zu diesem Tag als „weltweit bestgeschützter Panzer“ galt. Alarmierte Kommandeure versprachen eine gründliche Untersuchung und eine Änderung des Ablaufs. Aber die Aufrechterhaltung der nationalistisch-religiösen Gruppe von Siedlern im Herzen von Gaza ist Kern der Regierungspolitik und nicht offen für eine Infragestellung durch das Militär. Die isolierten Siedlungen blieben bestehen. Genau einen Monat später zerstörten die Guerillas fast am gleichen Platz bei einem zweiten Angriff gegen einen Konvoi einen zweiten Merkava.

In der Westbank sehen die Guerillas in den zahlreichen Straßensperren und Kontrollposten die schwächsten Punkte der IDF. Es ist auch das, was die palästinensische Bevölkerung im Allgemeinen am Übelsten aufnimmt.

Die Resultate sind fatal – 17 Soldaten wurden bei einer Serie von Guerillaangriffen in zwei Wochen getötet. Bei dem Überfall mit den meisten Toten kam für eine halbe Stunde ein palästinensischer Scharfschütze, bewaffnet mit einem alten, aber immer noch funktionsfähigen Karabiner des 2. Weltkrieges, der sieben Soldaten und drei Siedler tötete. Er konnte in Ruhe weggehen, bevor Verstärkung eintraf. (Der Platz, wo dies geschah, ist in arabisch als Wadi Haramiya bekannt, das Tal der Räuber, ein Name, der an frühere Praktiker solcher Taktiken in ottomanischen Zeiten erinnert.) „Ihr habt uns sitzen gelassen, wir sind zu Tontauben geworden!“, so reagierten die überlebenden Soldaten, als ihre Offiziere einige Stunden später zu einem Besuch eintrafen, der eigentlich die Moral heben sollte. Über die Medien wurde die Geschichte weiter verbreitet und dabei mitgeteilt, dass der Kontrollpunkt Harmiya aufgrund des Drucks der Siedler der nahegelegenen Siedlungen eingerichtet wurde. „Wenn die Siedler ihr eigenes Leben riskieren wollen, so ist das ihre Sache – aber warum nehmen sie das Leben von meinem Sohn?“, sagte die Mutter von einem der zehn getöteten Soldaten, die der Presse zudem erzählte, dass ihr Sohn ernsthaft überlegt hatte, den Brief der Verweigerer zu unterzeichnen.


Friedensvorschläge und gebrochene Versprechen

Gleichzeitig mit seiner wegbrechenden Popularität im eigenen Land, merkte Sharon, dass sich das Klima in Washington zu wandeln begann. Es ist wahr, Washington setzt seine öffentliche Unterstützung für Sharons Kampagne zur Bombardierung und dem Einmarsch in palästinensische Städte fort, die in offiziellen US-Verlautbarungen „Selbstverteidigung“ genannt werden. Dennoch verweigerte die US-Administration freundlich, aber fest, den Vorschlag Sharons, Arafat zu vertreiben und nach anderen „alternativen palästinensischen Führern“ Ausschau zu halten.

Zu diesem Dilemma kam die plötzliche Friedensinitiative des saudischen Kronprinzen hinzu. Das Angebot war ein vollständiger Frieden zwischen Israel und der ganzen arabischen Welt bei vollständigem Rückzug hinter die Grenzen von 1967. (Eine Klärung durch Henry Siegman vom Amerikanisch Jüdischen Kongress ergab, dass die Saudis bereit wären, die Bewahrung des jüdischen Quartiers in der Altstadt von Jerusalem zu akzeptieren, wie schon in einigen Vorschlägen bei den letzten Verhandlungen unter Barak benannt.) Der Vorschlag machte auf die kriegsmüde israelische Gesellschaft ziemlichen Eindruck. Die letzten anderthalb Jahre hatten die Israelis gegenüber den Palästinensern sehr argwöhnisch werden lassen und sie zweifelten an jedem Versprechen oder unterzeichnetem Abkommen der palästinensischen Führer (ein Gefühl, das von der palästinensischen Seite reichlich erwidert wurde). Eine Vereinbarung, die von der arabischen Welt unterstützt wird und von einem der renommiertesten und mächtigsten Staaten eingebracht wird, mit bis jetzt neutralem Standpunkt, schien eine größere und solidere Sicherheit für die Zukunft anzubieten. De Meinungsumfragen zeigten an, dass über die Hälfte der israelischen Bevölkerung (in einer 48 Prozent, in einer anderen 54 Protent) bereit sind, den Vorschlag der Saudis zu akzeptieren.

Vergangene Erfahrungen zeigen: falls die Regierung einen Vorschlag akzeptiert, so könnte dies schnell zu einer großen, soliden Mehrheit führen. Aber Sharon hat nicht die Absicht, die Grenzen von 1967 oder irgendetwas Ähnliches zu akzeptieren, unabhängig davon, was im Gegenzug angeboten wird. Er verschloss sich selbstverständlich nicht der Initiative. Vielmehr äußerte er sich vorsichtig, schlug ein Treffen mit den Saudis vor, was selbst ein großer Akt der Normalisierung wäre, ohne sich selbst zu den territorialen Fragen festzulegen. Niemand war überrascht, dass die Saudis auf dieses generöse Angebot zurückhaltend reagierten. Sie konzentrierten ihre Anstrengungen darauf, Unterstützung von arabischen Schlüsselstaaten für ihren Vorschlag zu bekommen, mit dem Blick darauf, ihn beim Arabischen Gipfel Ende März in Beirut offiziell gebilligt zu bekommen. Das, so stellten sie klar, würde nur bei Anwesenheit von Arafat an der Seite der anderen arabischen Führer geschehen. Ohne Arafat würde der Gipfel mit einer üblichen Resolution zur Unterstützung des palästinensischen Kampfes gegen Israel enden.

Auf diese Weise war das Thema der andauernden Belagerung des Sitzes von Arafat in Ramallah an die oberste Stelle der israelischen Tagesordnung gesetzt worden. Und es wurde noch dringender, als die palästinensische Polizei – wie von Sharon gefordert – die Verantwortlichen für die Ermordung des Minister Ze’evi festnahm. Als Ergebnis wurde ein Treffen von israelischen und palästinensischen Sicherheitsvertretern vereinbart, mit dem Ziel eines Waffenstillstandes, und der Verteidigungsminister Ben Eliezer schlug dem Kabinett vor, Arafat freizulassen. Aber die Minister der extremen Rechten drohten damit, sofort zurückzutreten. Der Verteidigungsminister warnte vor schrecklichen Ergebnissen, wenn Israel seinen Teil der Vereinbarungen nicht einhalte. Resultat war ein „Kompromiss“: die Panzer rückten einige hundert Meter von der unmittelbaren Umgebung des Sitzes von Arafat ab und das Kabinett erklärte, dass „Arafat frei sei, sich innerhalb der Stadt Ramallah zu bewegen, aber darüber hinaus eine Genehmigung brauche.“ Die Erklärung wurde von den Palästinensern als die vorsätzliche Beleidigung aufgefasst, die sie war, und am nächsten Tag gab es eine neue Reihe von tödlichen palästinensischen Angriffen. „Ich habe es euch gesagt“, sagte Ben Elizer nach inoffiziellen Quellen. Der Sprecher des Ministers bestritt sogleich, dass sein Boss jemals solche Worte gesagt habe, aber der Vorfall enthüllt die wachsenden Brüche in Sharons Regierung der nationalen Einheit.


Wirbelsturm des Krieges

Eine Zeit lang haben die Führer der Siedler und ihre politischen Vertreter auf die Umsetzung ihrer eigenen Vorstellungen zur „Lösung“ des Konfliktes gedrängt: Wiederbesetzung der palästinensischen Städte, Waffendurchsuchungen von Haus-zu-Haus, Erschießen aller Palästinenser, die im Besitz von Waffen sind, Inhaftierung, Tötung und Abschiebung aller „Terroristen“ und dann „Verhandlungen“ mit dem eingeschüchterten Rest über eine begrenzte Autonomie unter vollständiger israelischer Souveränität. Der Plan schien einige Paralellen zu einem von der Armee gemachten Alternativplan zu beinhalten. Die Siedler pflegen zu einigen Generalen enge Beziehungen.

Ende Februar entschied Sharon, eine Operation zu genehmigen, die in ihrem Ausmaß nicht so umfangreich war, wie von den Siedlern gefordert, aber die von ihnen befürworteten Techniken benutzte. Der Plan rief zu einem direkten Angriff auf palästinensische Flüchtlingslager auf, die sowohl bei der ersten, wie auch bei der jetzigen Intifada im Mittelpunkt stehen und deren Einnahme die Armee bis jetzt vermied. Eine allgemeine Mobilisierung der Reservisten, wie von den Hardlinern gefordert, wäre einem Krieg gleichgekommen. Auch könnte dies zu einer bedeutenden Zahl von Reservisten führen, die die Einberufung verweigern. Stattdessen wurde die Operation mit den Kräften der regulären Armee geplant. Auch wenn alle verfügbaren Einheiten in diese Operation geschickt wurden, gab es nicht genügend, um alle Camps gleichzeitig anzugreifen. Stattdessen wurde geplant, von Norden nach Süden durchzugehen und die Einheiten von einem Flüchtlingscamp zum nächsten springen zu lassen. In der Zwischenzeit sollte die Luftwaffe massiv die Orte bombardieren, die im Moment nicht besetzt sind, und die Marine sollte Granaten auf Ziele am Ufer des Gaza-Streifens schießen. So begannen die bis dahin schlimmsten Tage des andauernden Wirbelsturms der Gewalt.

Bevor die Intifada ausbrach, schätzte die Armee, dass der Einmarsch in alle palästinensischen Gebiete und in die Flüchtlingscamps eine sehr hohe Zahl von israelischen Opfern zur Folge haben würde, Dutzende oder sogar Hunderte. Seit Oktober 2000 wurden die besten Köpfe der Armee herangezogen, um besondere Taktiken und Strategien zu entwickeln, damit die Zahl der Opfer möglichst niedrig bleibt. Unter der neuen Doktrin sollte eine Invasion immer unter dem Mantel der Verschwiegenheit durchgeführt werden. Die Soldaten sollten in überwältigender Stärke kommen – Bataillone bei den ersten Invasionen, die später zu Brigaden anwachsen. Infanterie sollte immer von zahlreichen Panzern und Hubschraubern begleitet werden, die bereit sind, mit ihrer Feuerkraft jede Opposition zu zerquetschen. Bewegungen auf den Straßen besetzter Städte sollten durchweg in bewaffneten Fahrzeugen durchgeführt werden. Infanteriesoldaten sollten zügig strategische Gebäude vor Ort beschlagnahmen und sie in militärische Standorte umwandeln, dabei palästinensische BewohnerInnen entweder vertreiben oder in einem mehrstöckigen Gebäude auf einen Raum, eine Wohnung oder ein Stockwerk verweisen. Ein Rückzug aus der Stadt sollte wieder in der Nacht und in bewaffneten Fahrzeugen durchgeführt werden. Für Operationen in Flüchtlingslagern, mit ihren engen Gassen und eng gedrängten Hütten, sollten die Soldaten die Mauern einschlagen und so von Haus zu Haus kommen, ohne die Straße zu betreten und sich selbst Feuer von Scharfschützen auszuliefern. („Ja, die Einwohner müssen später ihre Häuser zu reparieren – das ist das Glück des Krieges“ merkte im israelischen Radio ein Kommandeur an.)

Der Plan der Armee wurde in etwa so ausgeführt. Nicht weniger als 20 000 Soldaten waren dafür abgestellt worden. Die Eroberung der Flüchtlingslager wurde auf der israelischen Seite mit Kosten von etwa einem toten Soldaten pro Camp erreicht – wahrlich geringe Verluste für alle, aber ein großer für die Familie der Soldaten.

Die Verluste auf palästinensischer Seite schwankten, es waren mehr als zweihundert in einer Woche, fast 50 am 8. März, dem Roten Freitag. Das Fernsehen waren voll von Bildern mit hunderten verhafteter palästinensischer Männer, ihre Hände hinter ihrem Rücken mit Plastikhandschellen gefesselt und ihre Augen mit Lappen verbunden, wie sie durch die Straßen der eroberten Flüchtlingslager geführt wurden. Das Verfahren, Nummern auf die Handgelenke der Gefangenen zu schreiben, löste einen Proteststurm aus, sogar von gewöhnlichen Knesset-Mitgliedern, die an die Behandlung der Nazis gegenüber den Insassen der Konzentrationslager erinnert wurden.

Inzwischen stellte sich heraus, dass sich die meisten „gefährlichen Terroristen“, die die Armee suchte, nicht unter den Gefangenen befanden. Statt zu bleiben und in einer unmöglichen Lage um den Tod zu kämpfen, schlichen sie sich davon, um an weniger bewachten Flecken heftige Angriffe zu starten, und kamen unversehrt zurück, sobald die Armee ihre Häuser verlassen hatte und zu einem anderen Camp gegangen war. Der Oberst der Fallschirmjäger, Aviv Kochavi, der das Kommando bei der Eroberung des Flüchtlingscamps Balata in Nablus hatte, freute sich diebisch im Radio: „Uns wurde erzählt, dass es Tiger wären, aber wir fanden nur Kätzchen“. Innerhalb weniger Stunden, nachdem wir seine Worte hören mussten, führten einige der „Kätzchen“ sowohl ein tödliches Selbstmordattentat in Jerusalem, wie auch einen vernichtenden Angriff auf einen Kontrollpunkt der Armee aus. In der Hitze des Gefechts verschwammen die Unterschiede zwischen den verschiedenen palästinensischen Gruppen, Militante der Tanzim, Hamas und der kleineren marxistischen Fraktion kämpften zusammen. Die Idee, die Angriffe der Guerilla nur auf Soldaten zu beschränken, verlor sich in dem weitverbreiteten Zorn über die Ermordungen und die Zerstörung und in der lärmenden Forderung nach sofortiger Vergeltung.

Nicht länger sind Selbstmordattentäter auf islamische Organisationen beschränkt, ein wachsender Teil von ihnen kam aus den Rängen der Fatah. Es war für Israelis eine verwirrende Zeit. Hunderte von palästinensischen Opfern sorgten nicht für Trost für die Dutzenden von Israelis. Jeden Morgen gab das Radio die Eroberung einer anderen palästinensischen Stadt oder eines Lagers bekannt. Jeden Nachmittag wurde von einem neuerlichen palästinensischen Angriff auf eine israelische Stadt berichtet. Und zusätzlich führte ein Angriff in der libanesischen Grenzregion zu sechs toten Israelis, in einem Gebiet, das seit dem Rückzug aus dem Libanon vor zwei Jahren ruhig geblieben war. Er wurde Personen zugeordnet, die sich über die nördliche Grenze eingeschleust hatten, obwohl die Hisbollah offiziell die Verantwortung übernommen hatte.


Die Welt wacht auf

Verspätet realisierte Präsident Bush, dass das Feuer, das er Sharon legen ließ, sein eigenes Programm gefährdete. Die Eskalation zwischen Israel und den Palästinensern drohte den langgeplanten Besuch des Vizepräsidenten Cheney in die Region völlig entgleisen zu lassen und seine Absicht zu vereiteln, eine Anti-Saddam-Front aufzubauen, was die US-Administration als vorrangiges Ziel beschlossen hatte. In einer dramatischen Pressekonferenz erklärte der Präsident, dass er Zinni innerhalb von einer Woche zurück in die Region schicken werde und rief beide Seiten dazu auf, „von sich aus einen Waffenstillstand zu erreichen, sogar schon vor dem Eintreffen Zinnis“. Bushs Gründe für die wochenlange Untätigkeit sind immer noch unklar. Sie ließen Zeit für das schlimmste Blutbad, das immer noch andauert. Sofort nach der Erklärung von Bush machte Sharon eine scheinbar versöhnliche Geste und erklärte, er habe die Forderung nach „sieben Tagen völliger Ruhe“ als Vorbedingung für Verhandlungen aufgegeben. Das war dennoch mit einer Intensivierung der Militäroperation verbunden, welche „die Zahl der palästinensischen Opfer ansteigen lassen“ sollte – ein Ziel, das einige Tage zuvor offen vom Premierminister definiert wurde.

Mit einem anderen Zug im gleichen Spiel ließ Sharon eine Entscheidung vom Kabinett verabschieden, die Arafat erlaubt, von Ramallah in andere palästinensische Gebiete zu reisen, nicht aber ins Ausland. Die Entscheidung empörte die extrem rechten Verbündeten von Sharon und ließ sie ihre Drohung wieder aufleben, die Regierung zu verlassen. Arafat selbst sah davon ab, Ramallah zu einer Zeit zu verlassen, in der sich große Teile der israelischen Streitkräfte sichtbar der Stadt näherten. Er hatte gute Gründe, nach drei Monaten Hausarrest Verdacht zu schöpfen, dass Sharon ihn plötzlich aus dem Weg haben wollte, um den Weg für eine Invasion zu ebnen.

Inzwischen waren Zehntausende Siedler und ihre Unterstützer mit Bussen nach Tel Aviv gebracht worden, wo sie auf dem Rabinplatz eine turbulente Demonstration durchführten. Ihre Sprecher riefen Sharon auf, „mit dem Teufel der Palästinensischen Behörde ein für allemal Schluss zu machen“. Gerade als sie in ihre kugelsicheren Busse für die Heimkehr in ihre Siedlungen einstiegen, begannen in der größten Militäroperation seit 1982 massive militärische Kräfte in Ramallah einzumarschieren. Eine ganze Infanteriedivision, Hunderte von Panzern, ein großer Teil der gesamten israelischen Kampfeinheiten, war aufgeboten worden, um eine einzige palästinensische Stadt zu erobern, die von leicht bewaffneten Milizionären verteidigt wurde. „Es gab verstreuten Widerstand, die Operation wurde nach Plan durchgeführt“, erklärte der Sprecher der Armee, der dabei die Tötung von einem Dutzend junger Palästinenser herunterspielte. „Die Armee schwang eine mächtige Faust und landete in der Luft“, bemerkte der gut informierte Nahum Barn'ea von Yediot Aharonot. Die Operation wurde durch die Anwesenheit von Arafat in Ramallah behindert. Der Sektor um den Sitz des palästinensischen Führers herum blieb heilig, die Militärpläne wurde im letzten Moment geändert und so konnten die meisten der gesuchten Palästinenser fliehen. Ein Versuch Sharons, den Panzern die Einfahrt in dieses Gebiet zu befehlen, verursachte einen offenen Streit mit Ben Eliezer, der sich nach Augenzeugenberichten zu „der stürmischsten Kabinettssitzung seit Bildung der Regierung Sharon entwickelte“.

Inzwischen sandten die israelischen Konsulate auf der ganzen Welt der Regierung warnende Signale vor einem „PR-Desaster“. Filme voller Panzer, die palästinensische Krankenwagen zerquetschen, von langen Reihen von unter Bewachung stehenden Gefangenen, denen die Augen verbunden sind, von israelischen Soldaten, die in die Wohnzimmer von palästinensischen Familien eindringen und die Sachen aus den Schränken werfen, untergraben mehr und mehr das Wohlwollen gegenüber Israel. Mit dem Einmarsch der Armee in Ramallah, einer Stadt, die durchtränkt ist mit internationalen MedienvertreterInnen, wurde das zu einer Flut – verstärkt durch die Tötung eines bekannten italienischen Fotografen. Heraldo Rivera, Kommentator von Fox-Fernsehen, erzählte seinen Zuschauern: „Mein ganzes Leben war ich ein Zionist gewesen. Ich war bereit, für Israel zu sterben. Aber nach dem, was ich in Ramallah sah, wurde ich auch ein bisschen wie ein Palästinenser. Der Gebrauch von Panzern und F-16 Flugzeugen gegen eine dichtbesiedelte Stadt ist kein Weg, um gegen Terrorismus zu kämpfen. Es ist selbst Terrorismus.“ Drei Tage nach dem Einmarsch der Armee in Ramallah machte Präsident Bush vor laufenden Kameras eine weitere dramatische Erklärung und beschuldigte Sharon, „weit davon entfernt zu sein, hilfreich für den Erfolg von Zinnis Mission zu sein“. Er befahl ihm in keineswegs undeutlichen Worten, die Operation unverzüglich zu beenden.


Ende in Sicht?

Letzten Dezember war Sharon in der Position, Arafat wirklich mit vorgehaltener Waffe einen Waffenstillstand zu diktieren. Das ist nicht länger der Fall. Die Palästinenser können nun einen Preis verlangen. Zunächst forderten sie als Vorbedingung für Verhandlungen über einen Waffenstillstand den Rückzug aller israelischen Truppen aus den „A“-Gebieten, was auch so geschah. Nachdem dies erreicht war, bleiben als Hürde für Verhandlungen – die während des Schreibens dieses Artikels unter der Schirmherrschaft des Gesandten Zinni stattfinden – die Schließungen und Besetzungen, die in den letzten anderthalb Jahren das tägliche Leben für die PalästinenserInnen zur Hölle machten. Es wird allgemein angenommen, dass ein Waffenstillstand in den kommenden Tagen vereinbart werden wird. Aber die Kommentatoren zweifeln daran, wie weit er respektiert werden und wie lange er bestehen wird. Der palästinensischen Polizei und ihren Sicherheitsdiensten sind fast keine Gebäude oder Gefängnisse verblieben, in die sie Terroristen stecken könnten, sogar wenn die Entscheidung getroffen würde, sie zu inhaftieren. Die israelischen Bombardierungen waren sehr gründlich.

Die Kampagne der letzten Monate hat klar die interne Kräftebalance bei der palästinensischen Bevölkerung verändert, die Palästinensische Autonomiebehörde und seinen Apparat geschwächt und in großem Maße das Prestige und die Unterstützung für die verschiedenen Milizen und militanten Gruppen verbessert. Damit palästinensische Militante davon überzeugt sind, dass sie ihren bewaffneten Kampf aussetzen müssen und einen Waffenstillstand einhalten, brauchen sie ein klares Signal, dass das Ende der Besetzung durch politische und diplomatische Mittel beendet werden kann. Sharon, obwohl er zum politischen Überleben im Moment einen Waffenstillstand braucht, ist nicht bereit, die Besetzung zu beenden oder die Siedlungen abzubauen, die er selbst während seiner Karriere aufbauen ließ. Und die Bush-Administration bleibt bei der Ansicht, dass das israelisch-palästinensische Problem im Wesentlichen ein Nebengeschehen ist, das ruhig zu stellen und aus dem Weg zu räumen ist, um sich auf das wirklich Wichtige vorzubereiten: ihre bevorstehende Operation gegen Saddam Hussein.

Bush akzeptierte das Prinzip von zwei Staaten, Israel und Palästina, und schrieb dies sogar in einer neuen Resolution des Sicherheitsrates fest – ohne aber auf die alles entscheidende Frage der Grenzen hinzuweisen. In der Theorie würde auch Sharon einen palästinensischen Staat akzeptieren, wenn es ein „Staat“ wäre, der aus nichtzusammenhängenden Enklaven besteht. Bis jetzt gibt es wenig Gründe, anzunehmen, dass Bush bereit ist, eine aktive Vermittlungsrolle zu übernehmen, die seinem Vorgänger so viel Zeit und Energie gekostet hatte und bei der Clinton so arg enttäuschte. Die Palästinenser haben eine der machtvollsten Armeen im Nahen Osten erduldet und sind ungebrochen. Im Moment hat die nationale und internationale öffentliche Meinung und das Interesse der Supermacht Sharon dazu gezwungen, aufzuhören. Aber ein Sharon, der nichts zu verlieren hat, könnte seine Zeit dafür nutzen, einen noch destruktiveren Angriff vom Stapel zu lassen – als ein Spieler, der nicht verlieren kann. Die Geschichte mag sich gut an Ariel Sharon als ein Führer erinnern, der den Israelis endgültig bewiesen hat, dass der Weg der Gewalt nicht funktioniert, einfach, weil er es so oft versucht und es die Dinge nur schlimmer gemacht hat. Wenn es weiter Gründe für eine vorsichtige Hoffnung gibt, liegen sie genau da, wo vor einigen Monaten nichts zu sehen war: im Innersten der israelischen Gesellschaft, aus dem viele Zeichen darauf hindeuten, dass sie genug von der Besetzung und den damit verbundenen Kosten hat.



Kontakt: The Other Israel, P.O.B. 2542 Holon 58125, Israel Tel.+ Fax: +972-(0)3-5565804 Email: otherisr@actcom.co.il

Adam Keller: The Terrible Year, April 2002. Übersetzung aus dem Englischen: Christian Axnick und Rudi Friedrich. Adam Keller redigiert seit ihrer Gründung die im Jahr 1983 in Israel erscheinende Zeitung 'The Other Israel'

Eine gekürzte Fassung wurde veröffentlicht in: Connection e.V., Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen: Nahostkonflikt ohne Ende? Antikriegsarbeit in Israel. Die Broschüre entstand aus Anlass der gleichnamigen Rundreise, April 2002. Mit Dank für die finanzielle Förderung durch die Stiftung Umverteilen!, den Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) durch den ABP, DFG-VK Bildungswerk Hessen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung



Adam Keller wurde 1955 in Tel Aviv geboren und studierte dort Geschichte. Keller redigiert seit ihrer Gründung im Jahr 1983 „The Other Israel“, die Zeitschrift des Israelischen Rates für einen israelisch-palästinensischen Frieden (ICIPP). Nachdem im Oktober 1986 ein Gesetz erlassen worden war, welches Treffen von Israelis mit PLO-Vertretern verbot, nahm Keller aktiv an der Organisation des israelisch-palästinensischen Treffens in Rumänien teil. Seine Aktivitäten brachten ihn mehr als einmal hinter Gitter: 1984 wegen der Weigerung, Militärdienst im Libanon zu leisten; 1988, weil er auf 117 Armeepanzer Parolen geschrieben hatte, die zur Kriegsdienstverweigerung in den besetzten Gebieten aufriefen; 1990 für die umfassende Verweigerung jedes weiteren Militärdienstes. 1993 beteiligte Keller sich an der Organisation des Israelischen Friedensblocks (Gush Shalom). Gush Shalom setzt sich insbesondere für die Anerkennung eines palästinensischen Staates neben Israel ein.


Der Abdruck von Artikeln ist erwünscht unter Hinweis auf die Quelle und bei Zusendung eines Belegexemplares an: Connection e.V., Gerberstr. 5, D-63065 Offenbach Tel.: 069-82375534, Fax: 069-82375535 Email: office@Connection-eV.de
 4. Juli 2002