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Informatik und Heeresgerät
Thomas Goldstrasz und Henrik Pantle 1997

Die Entwicklung des Computers während des Zweiten Weltkriegs


Einleitung

Dieser Text stellt fest, dass die technische Informatik zufällig Heeresgeräte weiterentwickelt.

Dazu wird im ersten Kapitel „Krieg als Problem der Informationsverarbeitung“ eine These von Friedrich Kittler vorgestellt, die besagt, dass dies notwendig so sei. Darüber hinaus wird, anhand einiger Geschichten und einer Analyse über den Zusammenhang von Krieg und Medienentwicklung im Allgemeinen, die mediale Produktivkraft des Krieges plausibel gemacht.

Im Kapitel „Der Kryptologe Alan Turing“ findet diese These ihre Unterstützung auch für die Entwicklung des Computers im und wegen des Zweiten Weltkrieges.

Das vierte Kapitel „Der Privaterfinder Konrad Zuse“ zeigt dann aber eine in den entscheidenden Phasen unabhängige Parallelentwicklung, die vielmehr trotz als wegen des Zweiten Weltkriegs möglich war, und behauptet deshalb, dass der Computer auch ohne WK II gebaut worden wäre.

Das fünfte Kapitel „Was vom Kriege übrig blieb“ weist in die Nachkriegsgeschichte des Computers, stellt fest, dass die heutigen Computer zwar aus der „Heeresgerät“-Seite der Entwicklung entstanden sind, aber deshalb nicht notwendigerweise nur Kriege die Innovationschübe bieten können, die zu neuen Medien führen.

Es sind auch friedliche Strukturen denkbar und da, die die gleiche Kraft (und nur die Hälfte der Hässlichkeit von Kriegen) haben.

Zwischendurch werden einige Untersuchungen über den Gebrauch von Wörtern angestellt.


Krieg als Problem der Informationsverarbeitung

„Die Rettung Europas“, sagt Konrad, „hängt davon ab, wie schnell Nachrichten übermittelt werden können, und von gegenseitiger Verständigung, stimmt’s? Und was haben wir in Wirklichkeit? Eine Anarchie von eifersüchtigen deutschen Fürsten. Hunderte davon machen Pläne und Gegenpläne, zerstreiten sich untereinander und zersplittern die ganze Kraft des Reiches mit ihrem Gezänk. Wenn nun jemand, egal wer, die Nachrichtenlinien zwischen all diesen Fürsten in der Hand hätte, hätte er damit auch die Fürsten selber in der Hand. Dieses Netz könnte eines Tages den ganzen Kontinent vereinigen. Ich schlage also vor, dass wir uns mit dem alten Feind Thurn und Taxis zusammentun [...]. Wenn wir zusammenhalten“, sagt Konrad, „kann uns keiner beikommen. Wir könnten also jeden Dienst, der nicht dem Reiche zugute kommt, einfach verweigern. Niemand könnte ohne unser Wissen Truppen bewegen oder landwirtschaftliche Produkte transportieren oder was weiß ich noch alles. Sowie ein Fürst auch nur versucht, sein eigenes Kuriersystem aufzubauen, wird das von uns vereitelt.“ (Vv49: 140)
Eine Allmachtsphantasie aus dem berühmten Dreißigjährigen Krieg, nachempfunden vom nicht minder berühmten Thomas Pynchon, dem wohl perfidesten und auch paranoidesten unter den Schriftstellern, die sich mit dem Krieg beschäftigt haben. Wer auch immer dieser im obigen Zitat auftretende Konrad sein mag; er sagt interessante Dinge: Er zeichnet die Kriterien vor, an denen sich ein Kommunikationssystem bis heute messen lassen muss. Die Geschwindigkeit der Übertragung von Information, und deren Verständlichkeit. Dass er hier ein weiteres Kriterium unterschlägt, liegt in der Natur seiner Rede: Das nämlich, wie gut fest- bzw. sicherzustellen ist, ob der Brief unbeschädigt, unverfälscht, ungelesen und unkopiert beim Adressaten ankommt: Das Speicher- und Übertragungsmedium sollte haltbar und sicher sein. Oder zumindest, und das ist Konrads kriegerischer Hintergedanke, sollte der Benutzer glauben, dass sein Kommunikationssystem sicher sei. Je fester dieser Glaube ist, je weniger die Sicherheit eines Systems in Frage gestellt wird, desto besser kann man es gegen seine Benutzer verwenden. – Die Geheimhaltung und die Desinformation brauchen Strategien, die den Krieg unter anderem zu einem Problem der Informationsverarbeitung machen:

Wenn die sich postalisch zankenden Fürsten effektiv genasführt würden – z. B. indem durch ein Modul im Briefnetz alle Informationen planvoll umgeschrieben würden, alle Pläne abgestimmt, alle Beleidigungen in Bauchpinseleien verwandelt würden und jede Eifersüchtelei geschickt gekühlt, dann, so stellt sich Konrad die Rettung Europas wohl vor, könnte das Gezänk, durch einen geheimdienstlichen Zaubertrick während der Zustellung, schlicht invertiert werden. Aber, wie Bernhard Siegert mit Recht sogleich einwendet, „sie haben das Reich nicht vor dem Zerfall bewahrt. So wie Konrads Bundesgenossen, von Locke bis Habermas, das Reich der Sprache nicht vor ‘sinnlosem Gezänk’ gerettet haben. Immer bleibt der ewige Friede, das Reich der Engel, aus am Ende.“ (R: 7)

Ob dieser eingeschobene Rüffel, in die unklare Richtung „Locke bis Habermas“, sinnvolles Gezänk ist, sei einmal dahingestellt; sicher ist, dass Konrad sich hier zu viel vorgenommen hat. Es braucht nur ein Fürst andere Fürsten persönlich zu treffen, oder mit ihnen zusammen ein neues, dem Konrad unbekanntes Zankaustauschsystem zu etablieren, schon hat er seine Allmacht verloren, und – wenn die mit einem neuen Kommunikationssystem ausgestatteten Fürsten es darauf anlegen- einen mächtigen, weil mit unbekannten Waffen kämpfenden, Feind gefordert (oder auch: gefördert). Dass dies immer wieder der Fall ist, dass niemand es je geschafft hat, die Kontrolle auch nur über einen Länder-, Kontinente- oder sogar Welt- umspannenden Informationsfluss lange in der Form aufrecht zu erhalten, daß er ihn ohne Zwischenfall für seine Macht- oder Kriegsinteressen benutzen konnte, dafür liefert die Geschichte (der Medien) genügend Beispiele: Die Informationskommandos der Gegenmächte schlafen nicht! Z.B. ein Fall aus dem Zweiten Weltkrieg, den Friedrich Kittler wie folgt überliefert:
Die Battle of Britain, Görings vergeblicher Versuch, die Insel fürs geplante Unternehmen Seelöwe sturmreif zu bomben, startete mit einem Trick der Waffensystemsteuerung: Die Luftwaffenbomber wurden unabhängig von Tageslicht oder Nebellosigkeit, weil sie auf Funkwellen ritten. Zwei Richtstrahlsender an Britanniens eroberter Gegenküste [...] bildeten die Schenkel eines ätherischen Dreiecks, dessen Spitze die Funkleitung jeweils genau über die Bombenzielstadt legte. Der rechte Sender strahlte unablässig das Da Da von Morsestrichen in den rechten Pilotenkopfhörer, der linke Sender – und zwar exakt in den Impulspausen der Striche – sendete ebenso unablässig das Did Did von Morsepunkten in den linken. Mit dem Effekt, dass bei Abweichung vom ferngesteuerten Kurs die schönste [...] Pingpong – Stereophonie herauskam. Wenn aber die Heinkel genau über London oder Coventry stand, dann und nur dann verschmolzen die Signalströme aus beiden Kopfhörern [...] zu einem einzigen Dauerton. [...] Welche Mühe die britische Abwehr hatte, stereophone Fernsteuerungen zu knacken, erzählt Prof. Reginald Jones, ihr technischer Chef. Weil die Richtfunksender der Luftwaffe in Frequenzbereichen noch jenseits von UKW arbeiteten, für die der Secret Service 1940 nicht nur keine Empfangsmessgeräte, sondern den Begriff selber nicht besaß, half nur eine profane Erleuchtung. [...] [Nachdem sie ihm gekommen war, ließ Jones] abgestimmte Empfänger konstruieren, die die Luftwaffensender und deren Angriffziele ihrerseits orteten. Die Luftschlacht über England war gewonnen. (Auch wenn der Kriegsherr Churchill, um die Geheimnisenthüllung nicht wieder dem Feind zu enthüllen, die Evakuierung der Zielstadt Coventry lieber verbot.) (GFT: 154ff.)
Ein Gefecht um ein Informationssystem. Dass seine Entscheidung allein die gesamte Entscheidung der Luftschlacht über England ausgemacht hat, ist wohl etwas vorschnell kombiniert – es brauchte dazu denn doch noch die Entwicklung der Radartechnik, den Ausbau der Überlegenheit der alliierten Luftwaffe durch Langstreckenjäger und Langstreckenbomber und einiges mehr: ein Feind, dessen Ziele man kennt, muss immer noch davon abgebracht werden, sie zu verwirklichen. Aber Wissen ist der erste Schritt.

Churchill würde, wenn er nicht vom Wert seines Wissens überzeugt gewesen wäre, kaum diese moralisch brenzlige Entscheidung getroffen haben, es um den Preis von Menschenleben geheim zu halten, um es in einer strategisch besseren Situation ausspielen zu können. Eine informationspolitische Handlung, die auf ihre groteske Weise verdeutlicht, als wie kriegswichtig ein Informationsvorteil angesehen wird.

Analyse des Gefechts: 1) Ein neues System wird eingesetzt (UKW – Funk), das die Anderen nicht kennen. 2) Ein Code wird verwendet (Stereophones Morse DaDa – Did Did, das in Kombination mit einem Ort einen einzelnen Ton ergibt), dessen Sinn (Fernsteuerung, Zielbestimmung) den Anderen nicht bekannt ist. 3) Das System wird von den Anderen entdeckt, verstanden und ebenfalls benutzt (Bau der Empfänger). 4) Der Code wird entschlüsselt (Bestimmung der Ziele), woraufhin 5) die Informationslage, in der gefochten wird, unter neuen Vorzeichen steht.

Dieses Muster zieht sich, seit über den Krieg geschrieben wird, mehr oder minder vollständig durch wirkliche wie erfundene Kriegsgeschichten. „Wie“, fragt zum Beispiel Bernhard Siegert, „reagiert ein Schriftsteller wie Kleist, dessen Schriften den modernsten Stand militärischer Strategie propagieren, auf den Telegraphen [...], der ja nur ‘zur Versendung ganz kurzer und lakonischer Nachrichten’ taugt“? (EeB: 385) Nun, er entwirft ganz einfach ein zeitgemäßes Literaturverteilungssystem, das den Feind (Zensor) nicht mehr auf geheimen Postwegen zu umwandern braucht, sondern ihn, in kriegs- und krisengerechter Tarnung, überfliegt:
Demnach schlagen wir [...] eine Wurf- oder Bombenpost vor; ein Institut, das sich auf zweckmäßig, innerhalb des Raums einer Schussweite, angelegten Artilleriestationen, aus Mörsern oder Haubitzen, hohle, statt des Pulvers, mit Briefen und Paketen angefüllte Kugeln, die man ohne alle Schwierigkeiten, mit den Augen verfolgen, und, wo sie hinfallen, falls es kein Morastgrund ist, wieder auffinden kann, zuwürfe. (EeB: 386)
Ein Witz? Man weiß es nicht genau. Jedenfalls ein Vorschlag, in Stufe Eins der Gefechte um einen Informationsfluss einzusteigen. Der Code, Stufe Zwei, wäre in diesem Falle nichts geringeres, als die verschlungene Prosa eines Heinrich von Kleist, und könnte sich in der Dichte seiner formalen Möglichkeiten durchaus neben der härtesten Kryptologie heutiger Tage sehen lassen. Er ist nicht realisiert worden; wahrscheinlich weil Dichter, im Gegensatz zu Mathematikern, ihre Zeichen nicht verwalten können; der Klartext würde zu verschwommen werden.

Aus dem Muster solcher Geschichten lässt sich erkennen, dass der Krieg einen besonders fruchtbaren Boden für die Entwicklung neuer Medien, sowie Codierungs- bzw. Decodierungssystemen, bietet. Immer wieder müssen neue Systeme eingeführt werden um einen geheimen Informationsaustausch zu sichern. Immer wieder werden sie entdeckt und geknackt und bleiben nicht länger ein Vorteil ...

Friedrich Kittler analysiert die großen Kriege der Weltgeschichte als Zeit der Etablierung Neuer Medien und die Nachkriegszeiten als deren bürgerliche Massenverwendung:
Um die Weltgeschichte (aus geheimen Kommandosachen und literarischen Durchführungsbestimmungen) abzulösen, produzierte das Mediensystem in drei Phasen. Phase 1, seit dem amerikanischen Bürgerkrieg, entwickelte Speichertechniken für Akustik, Optik und Schrift: Film, Grammophon und das Mensch-Maschinesystem Typewriter. Phase 2, seit dem Ersten Weltkrieg, entwickelte für sämtliche Speichermedien die sachgerechten Übertragungstechniken: Radio, Fernsehen und ihre geheimeren Zwillinge. Phase 3, seit dem Zweiten Weltkrieg, überführte das Blockschaltbild einer Schreibmaschine in die Technik von Berechenbarkeit überhaupt; Turings Definition von Computability gab 1936 kommenden Computern den Namen.
Speichertechnik, 1914 bis 1918, hieß festgefahrener Stellungskrieg von Flandern bis Gallipoli. Übertragungstechnik mit UKW-Panzerfunk und Radarbildern, dieser militärischen Parallelentwicklung zum Fernsehen, hieß Totalmobilmachung, Motorisierung und Blitzkrieg vom Weichselbogen 1939 bis Corregidor 1945. Das größte Computerprogramm aller Zeiten schließlich, dieser Zusammenfall von Testlauf und Ernstfall, heißt bekanntlich Strategic Defense Initiative. Speichern/ Uebertragen/Berechnen oder Graben/Blitz/ Sterne. Weltkriege von 1 bis n. (GFT: 253)
Ein kurzer Blick auf Phase 2 – Radio und Fernsehen im Ersten Weltkrieg – um eine Vorbereitung für den langen Blick auf Phase 3 – Computer im Zweiten Weltkrieg – zu haben:

Zwar wurde das technische Gerät zur Übertragung von Radiowellen 1903 von dem Berliner TU-Professor Adolf Slaby entwickelt, und die erste „Radiosendung“ 1906 von Reginald A. Fessenden von der University of Pennsylvania an all die wenigen drahtlosen Schiffstelegraphen der Welt gesendet, es musste aber, so Friedrich Kittler, „erst noch ein Weltkrieg, der Erste, ausbrechen, um Poulsens Lichtbogensender auf Liebens oder Forests Röhrentechnik und Fessendens Experimentalanordnung auf Massenproduktion umzustellen.“ (GFT: 148) Was wahrscheinlich so viel heißen soll, wie, dass die Radiotechnik ohne den Ersten Weltkrieg in den Kellern von Universitäten eingestaubt wäre. Denn in den Jahren 1914-18, in denen die Entwicklung von Verstärkerröhren höchste Dringlichkeitsstufen erhielt – die beiden neuen Waffengattungen Kampfflugzeug und U-Boot setzten drahtlose Kommunikation voraus – wuchsen die Funkertruppen (von ca. 6000 auf ca 190 000 Mann) exponentiell an (Vgl. GFT: 148f). So dass sich irgendwann, in der Ödnis eines zähen Stellungskrieges irgendwo in den Ardennen, neue Möglichkeiten der Unterhaltung erschließen ließen:
Schützengrabenbesatzungen hatten zwar kein Radio, aber „Heeresfunkgeräte“. Vom Mai 1917 an konnte Dr. Hans Bredow, vor dem Krieg AEG-Ingenieur und nach dem Krieg erster Staatssekretär des deutschen Rundfunks, „mit einem primitiven Röhrensender ein Rundfunkprogramm ausstrahlen, bei dem Schallplatten abgespielt und Zeitungsartikel vorgelesen wurden. Der Gesamterfolg war jedoch dahin, als eine höhere Kommandostelle davon erfuhr und den ‚Missbrauch von Heeresgerät? und damit jede weitere Übertragung von Musik und Wortsendungen verbot.“ (GFT: 149)
Genau in der von ihm zitierten Wendung aus dem Funkspruch einer „höheren Kommandostelle“ findet Kittler den Anstoß zur Formulierung seiner allgemeinen These „Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Missbrauch von Heeresgerät“ (GFT: 149) und belegt diese für den Ersten Weltkrieg anhand der bürgerlichen Karriere von Kriegsfunkgeräten und deren übrig gebliebenem Bedienungspersonal.

Die Inspektion der Technischen Abteilung der Nachrichtengruppe (Itenach) [...] gründete eine Zentralfunkleitung (ZFL), die am 25. November [1918] vom Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin auch Funkbetriebserlaubnis empfing. Ein „Funkerspuk“, der die Weimarer Republik im technischen Keim erstickt hätte und darum sogleich zum „Gegenangriff“ Dr. Bredows führte. Einfach um anarchistischen Missbrauch von Heersfunkgerät zu verhindern erhielt Deutschland seinen ersten Unterhaltungsfunk. (GFT: 150)

Kittlers Satz vom Missbrauch und sein medientheoretisches Produktionsmodell der Kriege besagen, dass es ohne Kriege keine Neuen Medien gibt. Allein Kriege besitzen die Wucht einen medialen Innovationsschub anzustoßen. Für die (Massen-) Entwicklung des Computers also musste nach Kittler erst noch ein Weltkrieg, der Zweite, ausbrechen. Er ist vorbei und wird beschrieben. Seine Geschichte hat sich um 50 Jahre Geschichte fortgeschrieben. Vorläufig – kann sie anders gelesen werden.


Der Kryptologe Alan Turing
Was hatte Hardy in seiner Apology geschrieben? „Die wahre Mathematik hat keinerlei Einfluß auf Kriege. Noch nie hat jemand irgendeinen kriegerischen Zweck entdeckt, den die Zahlentheorie erfüllen könnte...“ Der alte Knabe hatte nicht annährend eine Ahnung gehabt, was noch alles geschehen würde.
Robert Harris, Enigma
Der in seinem kurzen Leben spät geschriebene Aufsatz „Computing Machinery and Intelligence“ (1950) des „legendären britischen Mathematikers, Logikers, Kryptoanalytikers und Computerkonstrukteurs Alan Mathison Turing (1912-1954)“ (E: Klappentext) beginnt mit dem Satz: „Ich beabsichtige die Frage zu erörtern: ‚Können Maschinen denken?‘“. Um diese Frage zu diskutieren sorgte er zuerst für eine Testumgebung für „denken“: Das von ihm so genannte Imitationsspiel; der heute so genannte Turingtest. Ein Fragesteller (F) kommuniziert mit einem antwortenden Computer oder Menschen (A) so, dass er ihn nicht sieht und seine Antworten nur in maschinenschriftlicher Form erhält (Turing schlug 1950 die Kommunikation über einen Boten oder einen Fernschreiber vor; heute ist es nicht schwer, sich eine E-Mail Variante vorzustellen). Fs Aufgabe ist es, durch geschicktes Fragen herauszufinden, ob er mit einer Maschine oder mit einem Menschen redet. Sollte es in diesem Test einer Maschine gelingen, von F für einen Menschen gehalten zu werden, so müsste das, was sie getan hat um ihn zu überlisten, mit „denken“ beschrieben werden. Einen möglichen Dialog zwischen A und F skizziert Turing so: „F: Bitte schreiben Sie ein Sonett über das Thema der Forth-Brücke. [Eine Brücke über den Firth of Forth in Schottland] A: Da kann ich nicht mitmachen. Ich habe noch nie dichten können. F: Addieren Sie 34957 und 70764. A: (Pause von etwa 30 Sekunden und dann die Antwort:) 105721. F: Spielen Sie Schach? A: Ja. „(GEB: 634) Woraufhin F eine Schachaufgabe stellt, die A für einen Menschen sehr fix, für einen Computer aber eher langsam löst ...

Orientiert am heutigen Stand der Technik, kann man sagen, dass dieser Test einige Schwierigkeiten mitbringt. Es gibt mittlerweile Programme, die es geschafft haben, zumindest einige Fs davon zu überzeugen, sehr gute, beinah übermenschliche Kommunikationseigenschaften zu haben: „Es kam oft vor, dass Leute um die Erlaubnis baten, sich mit dem System [ELIZA von Joseph Weizenbaum] unbeobachtet unterhalten zu dürfen, und trotz Erklärungen bestanden sie nach der Unterhaltung darauf, die Maschine habe sie wirklich verstanden.“ (GEB: 639) Obwohl Weizenbaum selbst darauf besteht, dass ELIZA alles andere tut als denken und verstehen, wenn es Sätze generiert, hat es den Turingtest mit den besten Noten bestanden.

Anders herum sind Fälle nicht auszuschließen, in denen ein (vielleicht etwas zu skeptischer) F einen Menschen durch den Turingtest fallen lässt. Wir selbst haben bei Echtzeitkommunikation im Internet schon oft daran gezweifelt, es mit einem Menschen zu tun zu haben, wenn wir zum Beispiel ständig dazu aufgefordert wurden, unsere Sätze noch einmal anders zu formulieren, oder nur „abgedroschene Phrasen“ zu lesen bekamen; – manchmal hat sich, z. B. weil der Andere im Raum nebenan saß, unser Irrtum sehr einleuchtend aufklären lassen. – Der Turingtest könnte also dazu führen, dass von einem F eine merkwürdige Menge aus Menschen und Maschinen das Prädikat „denken“ erhielte und eine sehr seltsame Menge von Menschen und Maschinen für ihn nicht denken würde; – von anderen Fs würden sehr wahrscheinlich jeweils andere Referenzmengen gebildet werden.

Diese Kritik am Turingtest klingt wie der Versuch eines siegertschen Sprachreinigers, den Lockesatz ‚Wenn jemand zu einem anderen spricht, so will er verstanden werden‘ zu retten: (VmV: 5) Wenn „denken“ von Einem auf alle Menschen, von einem Anderen aber ohne Ambiguität auf einige Menschen und einige Maschinen angewendet wird, werden diese beiden es schwer haben, sich zu verstehen, wenn sie bei einer Unterhaltung das Wort „denken“ benutzen. – Sollten sie einander verstehen wollen, dann wird diese Schwierigkeit behoben werden müssen. Vielleicht durch eine Vereinbarung über die Verwendungsweise des Wortes „denken“.

Locke selbst hat Diskurse danach unterschieden, wie wichtig die Klarheit von Worten für sie sind. Es ist durchaus mit Lockes Philosophie kompatibel, eine Diskursform (z. B. den „Diskurs des reinen Zanks“) einzuführen, in dem Klarheit und Verstehen keine Rolle spielen. Im Alltagsgebrauch genügt es für Locke, wenn sich die Bedeutungen der Worte bei den verschiedenen Sprechern ausreichend ähneln. Nur wenn es um einen wissenschaftlichen Diskurs geht, dann fordert Locke die Deckungsgleichheit der Wortbedeutungen von jedem, der sich daran beteiligt, denn sonst käme keine Erkenntnis, sondern nur Verwirrung dabei herum.

Dass diese Deckungsgleichheit wohl – auch bei wissenschaftlichen Diskussionen – selten völlig erreicht wird (Streitereien um Begriffe gehen ja nicht selten darum, sie wenigstens zu einer funktionierenden Annäherung zu bringen), ist einer der Gründe dafür, dass die Bedeutungen sich ändern. Einen solchen Bedeutungswandel des Wortes „denken“ hat Turing selbst vorausgesagt und einzuleiten versucht. Am Ende seiner Betrachtungen über denkende Maschinen schrieb er:
Dennoch glaube ich, dass am Ende des Jahrhunderts der Gebrauch von Wörtern und die allgemeinen Ansichten der Gebildeten sich so sehr geändert haben werden, dass man ohne Widerspruch von denkenden Maschinen wird reden können. (GEB: 636)
Ob sich dieser Wandel wirklich noch vollzieht, bleibt abzuwarten. Die allgemeinen Ansichten der Gebildeten sind da noch – verwirrend uneinig. Manchmal auch: verwirrt. Turing hat aber den Anstoß zu einem ganz anderen Bedeutungswandel gegeben, indem er eine bestimmte Art von Arbeit automatisierte. Die Arbeit des „Computers“:
Unmittelbare Vorläufer des Computers sind nicht die fortgeschrittenen Rechenmaschinen sondern junge Frauen. So schreibt der Mathematiker Henry S. Tropp: „Ein Computer zu jener Zeit (tatsächlich sogar nach der Bedeutung im Wörterbuch vor 1956 [!]) war ein menschliches Wesen und kein Objekt, Computer waren eine Gruppe junger Frauen, von denen jede eine einen „programmierten“ Satz von Instruktionen auszuführen hatte, die geprüft wurden, weitergereicht für weitere Berechnungen, weitere Prüfungen usw., bis am Ende der Kette eine Menge von Ergebnissen erschien.“ (FzK: 15)
Die Geschichte der Wandlung des Wortes „Computer“, von jungen Frauen zur Maschine, ist ein ganzes Stück weit auch die Geschichte Alan Turings.

Für die Kriegsführung im Zeitalter der Funktechnik, in der ein Funkspruch an Einen eine „Botschaft an alle“ ist, muss Lockes Satz allerdings im Sinne des scheinbaren Unsinns völlig neu formuliert werden: ‚Wenn jemand zu allen spricht, so will er nur von den Richtigen verstanden werden!‘ Er chiffriert also seine Texte, und gibt nur dem, der etwas verstehen soll, den Schlüssel zur Dechiffrierung in die Hand. Alle Anderen stehen vor einem Gewirr aus Zeichen, das zu entwirren eine Menge von Problemen mit sich bringt; Probleme von denen der Chiffreur hofft, dass sie unlösbar sind. Probleme, mit denen sich Turing und seine KollegInnen im Zweiten Weltkrieg ausführlich beschäftigten, und – um sich vor einem Nervenzusammenbruch zu bewahren – sich nicht selbst daransetzten, die Spuren des Sinns in den maschinenproduzierten Chiffren zu verfolgen, sondern ebenfalls Maschinen konstruierten, die den mechanischsten und irrsinnigsten Teil dieser Arbeit durchlaufen konnten. Und das mit maschineller Gleichgültigkeit und Geschwindigkeit; – also ohne wahnsinnig zu werden, und „in jener Echtzeit, auf die bei Blitzkriegbefehlen und rechtzeitigen Gegenmaßnahmen alles ankommt.“(GFT: 368)

Aber vorher sollte der junge Mathematikstudent Alan Turing noch eine theoretische Voraussetzung für diese Maschinen schaffen, indem er eine Universelle Maschine formulierte, um eine der Fragen zu beantworten, die David Hilbert 1928 auf einem Kongress gestellt hatte:
Erstens: War die Mathematik vollständig in dem technischen Sinn, dass jede Behauptung [... der Zahlentheorie ...] entweder bewiesen oder widerlegt werden konnte? Zweitens: War die Mathematik widerspruchsfrei in dem Sinn, dass die Behauptung „2+2=5“ durch keine Folge von zulässigen Beweisschritten abgeleitet werden konnte? Und drittens: War die Mathematik entscheidbar? Damit meinte er, ob es ein bestimmtes Verfahren gab, das im Prinzip auf jede beliebige Behauptung angewendet werden konnte und das mit Sicherheit zu einer richtigen Entscheidung führte. (E: 108)
Das „Nein“ für die beiden ersten Fragen Hilberts (der selber gerne alle drei mit „Ja“ beantwortet hätte) hatte Kurt Gödel auf dem selben Kongress bereits angekündigt, und 1931 mit seinem Aufsatz „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I“ dann auch geliefert.

Es stellte sich so schnell heraus, dass „der Principia Mathematica verwandte Systeme“ nichts anderes sind, als „jedes beliebige mathematische System, das umfassend genug [ist], um die Zahlentheorie zu enthalten.“(E: 108), dass Gödel die durch die „I“ versprochene Fortsetzung seines Aufsatzes, in der es wahrscheinlich um die Reichweite seiner Idee gehen sollte, überhaupt nicht mehr schreiben musste. Das Paradox, das Gödel mit einem einfachen Trick, der Gödelisierung, aufstellte, wirkte wie eine Kopernikanische Wende auf alle Mathematiker, die sich in einer Welt eingerichtet hatten, in der es „so etwas wie ein unlösbares Problem nicht gibt„. Der Trick war, einen Code zu formulieren, mit dem man die Sätze einer Zahlentheorie innerhalb dieser Zahlentheorie darstellen kann. Ein solcher Code ermöglicht es nämlich, einen selbstbezüglichen Satz zu konstruieren, der innerhalb des Axiomensystems, in dem er steht, nicht entscheidbar ist; – man würde sich beim Versuch, seine Gültigkeit mit Hilfe seines erzeugenden Systems zu beweisen, ähnlich wie beim Lügnerparadox (der Behauptung „Ich lüge jetzt“), ständig in Widersprüche verwickeln. Man konnte seine Gültigkeit erst erkennen, wenn man ihn außerhalb seines Systems betrachtet. Es gab also gültige Sätze, die außerhalb der Arithmetik standen. Damit hatte Gödel gezeigt, dass sie unvollständig ist. Ein weiterer Punkt ist, dass in dieser Argumentation Gödels angenommen wurde, dass die Arithmetik widerspruchsfrei sei. Wäre das nicht der Fall, dann wäre jede zahlentheoretisch formulierte Behauptung beweisbar. Gödel hatte damit gezeigt, dass die formalisierte Arithmetik nicht gleichzeitig widerspruchsfrei und vollständig sein kann.

Offen blieb an dieser Stelle also noch Hilberts dritte Frage. Sie war der Gegenstand der folgenreichen Arbeit „On Computable Numbers“ (OCN), die „Turings Leben vom Frühling 1935 an ein ganzes Jahr lang beherrscht hat.“ (E: 129) Die entscheidende Idee kam ihm, als er eine Formulierung M.A.H. Newmans (des Professors, bei dem er Vorlesungen über Hilberts Programm gehört hatte) beim Wort nahm. Durch ein mechanisches Verfahren, sagte Newman, müsse sich die Frage nach der Entscheidbarkeit eines Satzes klären lassen, „und so träumte Alan Turing von Maschinen“ (E: 113) Viele vor ihm hatten Verfahren, die bei Beweisen oder Berechnungen angewendet werden, schon mit einer Maschine verglichen. Metaphern wie „An der Kurbel drehen“ für „Ein Beweisverfahren anwenden“ hatten sich schon im Sprachgebrauch der Mathematiker eingebürgert. Turing nahm sich vor, wirklich eine Maschine zu entwerfen. Einen Schaltplan zu schreiben, der die Kurbel von der Metapher wirklich aufs Papier bringt.

Dabei war ein wichtiger Punkt, dass das von Turing angestrebte deterministische Entscheidungsverfahren durch eine symbolverarbeitende Maschine darstellt werden sollte. Auch hier, so analysiert es Turings detailstarker Biograph Andrew Hodges, hat sich Turing den entscheidenden Anstoß bei Beobachtungen seiner alltäglichen Lebenswelt geholt. Auch um Kittlers oben zitierten Satz „Phase 3, seit dem Zweiten Weltkrieg, überführte das Blockschaltbild einer Schreibmaschine in die Technik von Berechenbarkeit überhaupt“ genauer zu verstehen, soll dieser Punkt mit einem längeren Stück Text behandelt werden:
Es gab natürlich schon Maschinen, die mit Symbolen umgingen. Die Schreibmaschine war eine davon. Alan hatte schon als Kind davon geträumt, Schreibmaschinen zu erfinden; Mrs. Turing besaß eine, und er könnte durchaus damit begonnen haben, sich zu fragen, was gemeint war, wenn man eine Schreibmaschine „mechanisch“ nannte. Es bedeutete, dass ihre Reaktion auf jede einzelne Einwirkung des Benutzers genau bestimmt war. [...] Die Reaktion hing von dem momentanen Zustand ab, den Alan die momentane „Konfiguration“ nannte. Insbesondere gab es eine „Großbuchstaben“ – Konfiguration und „Kleinbuchstaben“-Konfiguration. Von dieser Vorstellung aus entwickelte Alan eine allgemeine und abstrakte Form. [...]
Die Schreibmaschine wies allerdings noch ein anderes, für ihre Funktionsweise wesentliches Merkmal auf. Der Anschlagpunkt konnte relativ zum Blatt bewegt werden. Der Druckvorgang selbst war von der Position dieses Punktes auf dem Blatt unabhängig. Alan fügte auch dies in sein Bild einer allgemeineren Maschine ein. Es musste innere „Konfigurationen“ sowie eine veränderliche Position auf einer Druckzeile geben. Die Operation der Maschine wäre dabei von ihrer Position unabhängig. (E: 114)
Wie diese Abstraktion der Schreibmaschine, angewendet auf Hilberts Entscheidungsproblem, letztlich aussieht, ist bekannt. Sie ist unter dem Namen Turingmaschine berühmt geworden. In ihrer luzidesten Version bearbeitet ein Scanner ein unendliches Band, das in kleine Kästchen aufgeteilt ist, in denen entweder etwas (z. B. eine „1“) oder nichts (z. B. dargestellt durch ein leeres Kästchen) steht; was schon exakt die theoretische Vorwegnahme des mechanisierten Digitalen Prinzips ist, nach dem heute alle Computer funktionieren. Der Scanner kann ein Kästchen nach links oder rechts rücken, oder stehen bleiben. Und er kann lesen, löschen und schreiben. Das ist alles.

Mit diesen minimalen Möglichkeiten lassen sich Algorithmen als „Konfigurationsreihen“ bestimmen, die der Scanner zu durchlaufen hat, um eine Funktion zu berechen. Für alle Funktionen der Form „f(x,y)= x+y“, also der Addition zweier natürlicher Zahlen, könnte die „Konfigurationsreihe“, so aussehen (wobei angenommen wird, dass der Scanner anfangs auf irgendeinem Kästchen links von zwei Gruppen von Einsen steht, die durch ein leeres Kästchen voneinander getrennt sind):

/Konfig 1/ Wenn das Band leer ist: gehe nach rechts; bleibe in Konfig 1. Wenn das Band nicht leer (1) ist: gehe nach rechts; wechsle zu Konfig 2. /Konfig 2/ Wenn das Band leer ist: schreibe „1“; gehe nach rechts; wechsle zu Konfig. 3. Wenn das Band nicht leer ist: gehe nach rechts; bleibe in Konfig 2. /Konfig 3/ Wenn das Band leer ist: gehe nach links; wechsle zu Konfig. 4. Wenn das Band nicht leer ist: gehe nach rechts; bleibe in Konfig 3. /Konfig. 4/ Wenn das Band leer ist: keine Bewegung; bleibe in Konfig 4. Wenn das Band nicht leer ist: loesche; keine Bewegung; bleibe in Konfig 4.

Dass sich für jede berechenbare Funktion eine solche Konfigurationsreihe (oder eine äquivalente Beschreibung), also eine Turingmaschine, finden lässt, können wir hier aus Platzgründen nicht selber herleiten, und wählen deshalb eine etwas mittelalterliche Beweismethode, indem wir eine Autorität zitieren:
[W]enn von einer Funktion nachgewiesen wird, dass sie nicht Turingmaschinenberechenbar ist, dann folgt aus dieser Überzeugung, dass die Funktion überhaupt nicht berechenbar ist.

Diese Überzeugung oder Hypothese fasst man unter dem Namen Churchsche These zusammen, die [...] nicht beweisbar, aber allgemein akzeptiert ist.

Churchsche These:
Die durch die formale Definition der Turing-Berechenbarkeit erfasste Klasse von Funktionen stimmt genau mit der Klasse der intuitiv berechenbaren Funktionen überein. (TI: 88)
Damit hatte der junge Turing die Bestätigung des einflussreichen Logikers Alanzo Church, der zur gleichen Zeit, mit einem völlig anderen Ansatz, Hilberts dritte Frage verneint hatte, das Entscheidungsproblem mechanisch gelöst zu haben. Turing hatte eine Maschine von der Mächtigkeit der umfassendsten Axiomensysteme entworfen; insofern eine Universelle Maschine, als sich alles, was sich im mathematischen Sinne sagen lässt, immer auch mit Hilfe einer Turingmaschine sagen ließ. Und alles, was sich in ebendiesem Sinne nicht sagen lässt – nicht berechenbare Funktionen, nicht entscheidbare Sätze, sich widersprechende Behauptungen ... – würde eine Turingmaschine unendlich lange diskutieren: das sogenante Halteproblem, das heute für zahlreiche Abstürze, das Schweigen der Computer, verantwortlich ist.

Dass man jedes Computerprogramm, und damit, weil es, mit Kittler gesprochen, keine Software gibt, jeden Computer, mit einer Turingmaschine (etwa in Form einer sehr umfangreichen aber endlichen Konfigurationstabelle oder eines Flußdiagramms) beschreiben kann, ist der Grund, weshalb „On Computable Numbers“ als der initiale Aufsatz der Informatik angesehen werden kann. Diese theoretische Grundlegung des Computers – in vielen Texten werden die Worte „Computer“ und „Turingmaschine“ synonym gebraucht – entstand also nicht aus Informationsproblemen, die verschlüsselte Blitzkriegkommandos bereiten, sondern lag in der theoretischen Luft der mathematischen Logik von 1936. Wie sehr sie in der Luft lag, zeigt auch, dass sie (wie so oft in der Wissenschaft) zur gleichen Zeit und unabhängig voneinander mehrfach formuliert worden ist. Der Mathematiker Emil Post hatte ein geradezu tayloristisches Mensch-Maschine Szenario erfunden, das die gleiche mechanisierte Mächtigkeit aufweist, wie die Turingmaschine:
Post schlug vor, dass unter einem „genau festgelegten Verfahren“ eines zu verstehen sei, das in Form von Anweisungen an einen verstandlosen „Arbeiter“ beschrieben werden könnte, der an einer unendlichen Reihe von „Boxen“ arbeitete und der dazu in der Lage wäre, die Anweisungen zu lesen, sowie

(a) die Box, in der er sich befindet, zu markieren (als leer angenommen)
(b) die Markierung der Box, in der er sich befinde, zu entfernen (als markiert angenommen)
(c) sich zu der Box zu seiner Rechten zu begeben
(d) sich zu der Box zu seiner Linken zu begeben
(e) festzustellen, ob die Box, in der er sich befindet, markiert ist oder nicht. (E: 147)
Wäre Turing nicht Post mit der Ausformulierung seines Ansatzes um ein paar Monate voraus gewesen, würden wir heute vielleicht von der Postmaschine statt von der Turingmaschine reden, und aus Kittlers Computeranalogie der Universalen Schreibmaschine wäre vielleicht eher eine des Universalen Fließbandes, oder der Universalen Fabrik geworden (Was etwa Marvin Minskys Ideen von der Agentendurchlebten „Mentopolis“ gar nicht so abträglich wäre).

Hodges schreibt dazu lakonisch „Selbst wenn es Alan Tuing nicht gegeben hätte, seine Idee wäre bald in der einen oder anderen Form aufgetaucht. Das musste so sein. Es war die notwendige Brücke zwischen der Welt der Logik und der Welt in der die Menschen handelten.“ (E: 148) Man kann weiter schreiben: Selbst wenn es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, wäre diese theoretische Brücke bald in der ein oder anderen Form gebaut und verkauft worden. Das musste so sein. – Wie wir noch zeigen werden, stellt Konrad Zuse in mancher Hinsicht den Emil Post der Hardware dar. Er bietet ein Zeugnis dafür, dass es auch anders hätte laufen können; – dass der Krieg genauso wie Turing eher zufälliger- als notwendigerweise Computergeschichte geschrieben hat.

Aber es hat sie gegeben. Beide, Alan Turing und den Zweiten Weltkrieg. Sie haben gegenseitig ein Kapitel ihrer Geschichte geschrieben: Am „4. September [1939] meldete sich Alan bei der Government Code and Cypher School, die im August in das viktorianische Bletchley Park evakuiert worden war.“ (E: 187)An diesem Tag begann für Alan Turing der Krieg – als intellektuelles Problem.

Das Problem hieß Enigma. Die deutsche Chiffriermaschine, mit deren Verschlüsselungen die Wehrmacht ihre geheimen Kommandosachen über den öffentlichen Äther schicken konnte. Die deutsche Enigma ist eine zahlenmäßig sehr beeindruckende Weiterentwicklung des seit 1923 bekannten Enigma- Basismodells. Das Basismodell bestand aus einem elektrischen Schaltkreis, der durch 3 „Walzen“ oder „Rotoren“ die jeweils 26 verschiedene Stellungen einnehmen konnten, variiert werden konnte, und brachte es damit auf 17576 mögliche Ausgangskonfigurationen. Der Input wurde durch eine Schreibmaschinentastatur besorgt, und der Output bestand darin, dass in einer alphabetischen Anordnung von 26 Glühlämpchen eines aufleuchtete, deren Buchstaben der Chiffreur dann notierte. „[D]ie Enigma wurde in einem fixierten Zustand nur zur Chiffrierung eines Buchstabens verwendet, und dann drehte sich der äußerste Rotor um einen Schritt weiter und schuf auf diese Weise eine neue Reihe von Verbindungen zwischen Eingabe und Ausgabe“ (E: 194)

An der Mühsahl, die daraus entstand, dass das Enigma-Basismodell keinen automatischen Druck- und Übertragungsvorgang besaß, und jeder Buchstabe einzeln getippt, abgeschrieben und gemorst werden musste, änderten die Deutschen nichts. Aber sie erhöhten die Komplexität der möglichen Konfigurationen beträchtlich. Zum einen konnten bei der deutschen Kriegsenigma die Walzen in sechs verschieden Anordnungen installiert werden, macht 6 x 17576 verschiedene Stellungen, und zum anderen hatte sie ein 26-löchriges „Steckfeld“, das ein wenig an die Steckbretter in heutigen Elektrobaukästen erinnert, mit dem die Verbindungen zwischen den Rotoren noch einmal um einiges kompliziert wurden: „Es gab 1 305 093 289 500 Arten, sieben Buchstabenpaare auf dem Steckfeld zu verbinden, für jede der 6 x 17576 Rotor-Stellungen“ (E: 198).

Solch astronomische Zahlen scheinen die Deutschen derart beeindruckt zu haben, dass sie den gesamten Krieg über nie an der Sicherheit der Enigma gezweifelt haben. Als es ab 1941 die britisch- amerikanischen Geleitzüge geheimnisvoller Weise immer besser geschafft haben, den deutschen U-Bootpatrouillen auszuweichen, haben die Deutschen den Fehler niemals bei der Maschine, sondern immer bei den Menschen gesucht. Alle Veränderungen, die während des Krieges am deutschen Chiffriersystem unternommen wurden, sind Versuche gewesen, Spionage oder Verrat zu verhindern. Zum Glück für die KryptologInnen in Bletchley Park, mit deren Intelligence, in der vollen, englischen Bedeutung des Wortes, die Deutschen einfach nicht gerechnet haben.

Mit einem weiteren großen Glück für Bletchley hätten die Deutschen wohl noch weniger gerechnet – der genialen polnischen Arbeit, noch im Frieden, Pläne der deutschen Enigma zu erbeuten, sie daraus nachzubauen (Der britische Geheimdienst, der auch an die Pläne gekommen war, hatte angesichts der ersten Komplikation nicht einen ernsthaften Versuch unternommen, einen Nachbau anzufertigen) und eine Entschlüsselungsmaschine zu konstruieren, die das Ausprobieren aller Enigma-Möglichkeiten mit maschineller Geschwindigkeit vollzog. „Sie produzierten ein laut tickendes Geräusch und wurden deshalb Bomben genannt“ (E: 203)
Die Bombe bestand aus miteinander gekoppelten Baugruppen von sechs polnischen Enigma-Geräten. Das Walzensystem arbeitete selbständig mit elektrischem Antrieb; es schuf in knapp zwei Stunden Tausende und aber Tausende verschiedene Kombinationen. Wenn die Drehscheiben zueinander in eine Position gerieten, die das gesuchte Element verkörperte, leuchtete ein Signallämpchen auf. (BdE: 79)
Die Polen haben hier den Gödelschen Trick angewendet, ein System auf sich selbst anzuwenden. In diesem Falle: Die Enigma gegen die Enigma selbst. Aber deutsche Angst vor alliierter Spionage und deutschen Verrätern hängte 1938 noch zufällig die polnischen Bomben ab. Kittler schreibt:
Als aber Fellgiebels Wehrmachtnachrichtenverbindungen die Walzenzahl auf fünf erhöhten, kam auch die Bombe nicht mehr mit. [...] Die überforderten Polen schenkten ihre Unterlagen den Briten und Turing.

Aus der primitiven Bombe machte Turing eine Maschine, die Bletchley Parks Chef nicht zufällig Orientalische Göttin nannte: ein vollautomatisches Orakel zur Deutung vollautomatischer Geheimfunksprüche. (GFT: 368)
Genau genommen ist die Britische Bombe noch um einiges davon entfernt gewesen, Geheimsprüche vollautomatisch zu deuten. Die KryptologInnen von Bletchley Park sind durch sie alles andere als arbeitslos gemacht worden. Es blieb ihnen immer noch die Aufgabe, „Menüs“ für die Bomben zusammenzustellen, mit denen sie dann „gefüttert“ wurden. Eine Arbeit für die es mathematisch begabte Menschen brauchte: „Männer vom Typ Professor“(Vgl. E:188), die nach und nach in nicht gerade geringer Zahl für Blechley rekrutiert worden sind. Trotz – und auch wegen – der Maschine wuchs die Belegschaft von Bletchley stetig. Es musste ein riesiger Betrieb aufgebaut werden, um den Funkverkehr des Feindes mitzuhören. Als dies nicht schnell genug ging, wandten sich Turing und sein Kollege W. G. Welchman sogar mit einem langen Brief an ihren Oberbefehlshaber persönlich, und baten um Verstärkung von „zwanzig weiteren ungeschulten Arbeitskräften der Klasse III“, „ungefähr zwanzig geschulten Schreibkräften“, und darum, dass für das Testen der von den Bomben produzierten ‘Geschichten’ – die Bomben haben keinen Text produziert, sondern Rotorstellungen, weshalb ihre Ergebnisse eigens von Hand an Enigmas getestet werden mußten – weitere WRNS (Frauen vom Womens Royal Naval Service) zur Verfügung gestellt würden. (Vgl. Turing und Welchman an Churchill in E: 255) Die Arbeiten, für die sie gebraucht wurden, sind von den Bletchleyleuten „Sklavenarbeiten“ genannt worden. Viele von ihnen hätte man in der damals lexikalischen Bedeutung auch ohne weiteres „Computerarbeiten“ nennen können. Bedeutungswandel ist eine langwierige Angelegenheit ...

Teamwork (ein nicht zufällig nicht deutsches Wort) auf der ganzen Linie bestimmte die technische Entwicklung, die in England zu Maschinen namens Computer führte, von Anfang an. Viele der „Männer vom Typ Professor“ von Bletchley Park hatten konstruktiven Einfluss auf diese Entwicklung. Turing konzentrierte sich direkt auf die logischen Eigenschaften der Enigma (so z. B. die, dass sie autoinvers ist, woraus folgt, dass sie einen Buchstaben nicht in sich selbst verschlüsseln kann) und entwarf, möglicherweise zunächst auf dem Papier als Turingmaschine, ein Ausschlussverfahren zur Reduktion der möglichen Einstellungen als elektrischen Schaltkreis. Damit gelang es, das noch sehr blinde Suchen der polnischen Bombe wesentlich effizienter zu machen. Sofort begann es von allen „Professoren“seiten Verbesserungsvorschläge zu hageln (entscheidende Vorschläge kamen vom schon genannten Gordon Welchman). Immer mehr Implikationen wurden aufgedeckt, immer komplizierter der logische Schaltkreis der Bletchleybombe, mit deren Hilfe „Milliarden falscher Hypothesen mit Lichtgeschwindigkeit hinweggefegt wurden.“ (E: 213)

Allein, als die Organisation der Menschen an Turings Arbeitsplatz problematischer wurde als die bereits installierten und halbwegs fehlerfrei laufenden Bomben, wurde der professionelle Einzelgänger Turing zusehends entbehrlich. Obwohl er offiziell in hoher Stellung blieb, übernahmen Leute mit besserem Managertalent, wie Hugh Alexander oder Turings ehemaliger Lehrer Newmann, still und leise die Leitung.

So war es auch kein Verlust für die Briten – das System Turing war bereits mit dem System Bletchley Park verschmolzen – aber ein großer Gewinn für die Amerikaner, dass Turing im November 1942 in geheimer Mission nach New York übersetzte. Der offizielle Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg hatte die Briten dazu bewogen, ihr kryptologisches Wissen in Person von Alan Turing nach Amerika zu bringen. Sie brachten die englische Bombentechnik (und nebenbei den Autor von OCN) mit der massierten, unzerbombten Wirtschaftskraft Amerikas zusammen. Damit gaben sie die Kryptologie weitgehend aus den Händen; die Amerikaner überholten die Briten darin mit purer Masse: Sie schickten zehnmal so viele Kryptologen und Kryptobomben in den Krieg, als es den Briten möglich war. Eine hochgeschwinde informationelle Kooperation, die zu genügend Wissen über die U-Bootpositionen führte um die Versorgung der britischen Inseln zu sichern, aber auch ein bisschen ‚sinnloses Gezänk‘ um Machtbereiche und Befehlsgewalt, war die Folge ...

Während Turings USA-Aufenthalt waren schon Vorprojekte zu „ENIAC [Electronical Numerical Integrator and Computer]: The [US-] Army-Sponsored Revolution“ in vollem Gange. Daran war er vielleicht beteiligt; – indirekt über die Bell Labs und über den „anderen Mathematiker des Kriegs der Zauberer, John von Neumann, [der] seit 1937 mit der ballistischen Forschungsabteilung als Berater in Verbindung [stand]“ und vorher schon ein Exemplar von Turings OCN bekommen hatte. Direkt zusammen arbeitete Turing mit den Ingenieuren der Bell Laboratories, in denen schon seit einiger Zeit an Maschinen zur „Ausführung einer festgelegten Folge arithmetischer Operationen“ gearbeitet wurde. Diese Bemühungen sollen ihn aber relativ kalt gelassen haben. In den Bell Labs waren die Menschen interessanter als die Maschinen. Besonders intensiv diskutierte er seine Ideen über „Maschinengehirne“ mit dem „philosophischen Ingenieur“ Claude Shannon. Turing gab Shannon sein OCN zu lesen. Der davon begeisterte Shannon erweiterte Turings Vorstellungen von Informationsverarbeitung um eine Kulturelle Ebene als er ihm staunenswerter Weise erzählte, dass er den Maschinen Musik vorspielen wolle.

Englands führender Kryptologe Alan Turing wurde nach seiner Rückkehr aus den USA, 1943, nicht mehr in Bletchley Park eingesetzt. Auf uns macht dieses verblüffende und dunkle Kapitel in seiner Geschichte den Eindruck, dass dort geheim(dienstlich)e Mächte im Spiel gewesen sind. Der schwer berechenbare Turing war seit seiner Reise Träger von kriegswichtigen Geheimnissen auf höchster diplomatischer Ebene; – vielleicht musste er deshalb an einen Ort verfrachtet werden, an dem er unter „besserer Kontrolle“ war als im nur noch schwer überschaubaren Bletchley Park. Vielleicht wollten SIE Informationen in Sicherheit bringen. Turing wurde in die Geheimdiensthochburg Hanslope Park versetzt, bekam dort seine eigene Werkstatt, und arbeitete darin mit geringer Hilfe bis Kriegsende an einem Sprachverrauschungsapparat mit dem biblischen Namen Deliah. Niemand außer Turing selbst, der in von den Sprachverschlüsselungsmaschinen der Bell Labs fasziniert gewesen war, interessierte sich sonderlich dafür.

In Bletchley begann unterdessen die Computerentwicklung ohne Turing. Sein Lehrer Newmann, der natürlich gute Kenntnis von OCN und Turings Arbeit in Hut 8 hatte, baute 1943, mit einer Gruppe der „besten Talente [...] von den anderen Baracken [Bletchley Park war in Baracken, „Huts“, aufgeteilt] und von der mathematischen Welt draußen“ (E: 309) eine Maschine, die Kittler den „ersten Computer der Wissenschafts- oder Kriegsgeschichte“ (GFT: 371) nennt und die ihre stolzen Konstrukteure, wohl weil sie eine ganze Halle füllte und einige Tonnen wog, COLOSSUS tauften. Die COLOSSI, die in verwendbarer Version Bletchley etwa im Juni/Juli 1944 zur Verfügung standen hatten 2400 Röhren und arbeiteten mit einer Geschwindigkeit von 5000 Impulsen je Sekunde (Vgl. BdE: 161f.). Sie entschlüsselten den deutschen Baudot-Murray Code, der zwar selten war, aber „signifikant und übertrug ranghohe Berichte und Einschätzungen. Er brachte Bletchley viel näher an Berlin, als Hitler gerade die persönliche Lenkung des Krieges übernahm.“ (E: 267) Dieser Code funktionierte binär, indem er die „Buchstaben des Alphabets mittels zweiunddreißig verschiedenen Möglichkeiten [darstellte], die ein fünflöchriges Band bot.“ (E: 265) Ein Band mit Klartext konnte anhand eines Schlüsselbandes mit einer einfachen Regel zu Code „addiert“ werden. „Selbstredend schlug COLOSSUS binäre Addition durch binäre Addition“ (GFT: 371) was ihn schon sehr in die Nähe des Computers rückte. Bei Kittler findet sich eine Liste seiner Eigenschaften „Dateneingabe, Programmiermöglichkeiten und [die] große Neuerung interner Speicher“(GFT: 370), die dazu bewegt, ihn Computer zu nennen. Für Hodges sind die Programmiermöglichkeiten der COLOSSI aber noch nicht universell genug, er schreibt:
Denn die Bomben [und] Colossi [...] waren Parasiten, abhängig von den Launen und der Blindheit der deutschen Kryptographen. Eine einzige Änderung auf der anderen Seite des Kanals konnte zur Folge haben, dass die gesamte Technik [...] mit einem Mal nutzlos wurde. [...] Eine universelle Maschine hingegen, sofern sie sich nur in der Praxis verwirklichen ließe, erforderte keine Neukonstruktion, sondern lediglich neue, als „Beschreibungszahlen“ kodierte und auf ihr „Band“ geschriebene Tabellen. [D.h.: Eine neue Programmierung] Eine derartige Maschine konnte nicht nur Bomben, Colossi, Entscheidungsbäume und alle anderen mechanischen Aufgaben in Bletchley ersetzen, sondern die gesamte mühselige Rechenarbeit, zu der Mathematiker durch den Krieg verpflichtet worden waren. (E: 338)
Erst nach dem Krieg kam Turing dazu, mit seiner Automatic Computing Engine (ACE), die von den COLOSSI übriggelassenen menschlichen Computer noch durch eine Maschine zu ersetzen. Die unmittelbare Nachkriegsgeschichte des Computers fasst Kittler so zusammen:
COLOSSUS [gebar] Sohn auf Sohn, jeder kolossaler noch als der geheime Vater. Turings Nachkriegscomputer ACE sollte laut Versorgungsministerium „,Granaten, Bomben, Raketen und Fernlenkwaffen‘“ berechnen, der amerikanische ENIAC „simulierte Geschoßbahnen bei variablen Bedingungen von Luftwiderstand und Windgeschwindigkeit [...]“ John von Neumanns geplanter EDVAC löste „dreidimensionale ,Explosionswellenprobleme bei Granaten, Bomben, Raketen, Antriebs- und Sprengstoffen‘“, BINAC arbeitete für die US AirForce, ATLAS für die Kryptoanalyse, MANIAC schließlich, wenn dieser schöne Name rechtzeitig implementiert worden wäre, hätte die Druckwelle der ersten Wasserstoffbombe optimiert. (GFT: 375)
Turings Vermächtnis: Die Erfindung der theoretischen Informatik und Heeresgerät soweit das Auge reicht.


Der Privaterfinder Konrad Zuse

Eine besondere Eigenschaft unterscheidet die COLOSSI für Kittler aber erst signifikant von einer „tonnenschweren Ausgabe der Remington- Sonderschreibmaschine mit Rechenwerk“ (GFT: 375): Ihr Programm enthielt bedingte Sprungbefehle. (Die in den heute gängigen Programmiersprachen mit den Worten „IF“, „THEN“ und „ELSE“ gegeben werden.) Nur ist Kittlers erster Computer der Wissenschafts- oder Kriegsgeschichte nicht die erste Maschine gewesen, die die Remington in dieser Weise überholte. Kittler bemerkt die Maschinen, die COLOSSUS zuvorkamen, mit den Worten:
Bedingte Sprünge, in Babbages unvollendeter Analytical Engine von 1835 erstmals vorgesehen, kamen 1938 in Konrad Zuses Berliner Privatwohnung zur Maschinenwelt [...] Vergebens bot der Autodidakt seine Binärrechner als Chiffriermaschinen und zur Überbietung der angeblich sicheren Enigma an. Die von Wehrmachtsnachrichtenverbindungen verpasste Chance ergriff erst 1941 die deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt – zur „Berechnung, Erprobung und Überprüfung von ferngesteuerten Flugkörpern“ (GFT: 371)
An dieser Stelle ist bei uns das eingetreten, vor dem der kluge Locke gewarnt hat: Verwirrung wegen unterschiedlicher Gebrauchsweisen ein und desselben Wortes: „Computer“. Kittler meint wahrscheinlich mit „bedingte Sprünge kamen zur Maschinenwelt“, dass Zuses Rechenmaschinen (besonders wohl: Z3 & Z4) bedingte Sprünge ausführen könnten – ihre Architektur wäre in diese Richtung erweiterbar gewesen. Ein paar Sätze weiter zitiert Kittler nämlich selbst eine Stelle aus Zuses Autobiografie, aus der hervorgeht, dass Zuse die Möglichkeit bedingter Sprünge nicht installiert hat, als er sie 1944 bei der Arbeit an der Z4 bemerkte:
Da Programme wie Zahlen aus Folgen von Bits aufgebaut sind, lag es nahe, auch die Programme zu speichern. Damit hätte man bedingte Sprünge, wie wir heute sagen, ausführen und Adressen umrechnen können. [...] Ich hatte, offen gesagt, eine Scheu davor, diesen Schritt zu vollziehen. Solange dieser Draht nicht gelegt ist, sind die Computer in ihren Möglichkeiten und Auswirkungen gut zu beherrschen. (CmL: 76f.)
Kittler wendet das Wort „Computer“ an keiner Stelle auf die Maschinen Zuses an. Er nennt sie konsequent „Binärrechner“ (einmal nennt er sie „algorithmische Golems“(GFT: 373), was uns aber beim Verständnis auch nicht weitergeholfen hat). Sollte Kittler die Worte „Computer“ und „Binärrechner“ synonym gebrauchen, dann wäre es ein immanenter Widerspruch, COLOSSUS, von 1943, den „ersten Computer der Wissenschafts- oder Kriegsgeschichte“ zu nennen; – es sei denn, er sieht die Unterscheidung in den Attributen und würde spätestens Zuses Z3, von 1941, als den ersten vollendeten Computer der Wissenschafts- oder Zivilgeschichte bezeichnen. (Das halten wir aber für unwahrscheinlich, weil er damit seiner These von der exklusiven Produktivität der Kriege selbst das Wasser abgrübe.) Kittler muss also um konsistent zu bleiben zwischen „Zuses Binärrechner“ und dem „COLOSSUS- Computer“ einen Unterschied sehen, der der Z3 den Namen Computer verweigern kann. Der Unterschied, den er implizit ausmacht, ist der, dass – die Konsequenz aus seiner Scheu – Zuses frühe Rechner keine bedingten Sprünge implementierten.

Unsere Verwirrung wurde nicht geringer, als wir bemerkt haben, dass Kittler eigens betont, dass ENIAC „nach amerikanischer Geschichtsklitterung der ‚erste operationale Computer‘“ (GFT: 357) sei, aber verschweigt, dass es noch eine andere Geschichtsschreibung gibt, von der Zuse nicht unvergnügt bemerkt, dass es nicht nur eine deutsche Klitterung sondern mittlerweile die allgemeine Ansicht ist:
Nach dem Krieg dann erregten die Nachrichten über die amerikanischen Geräte weltweites Aufsehen. Von unserer Arbeit erfuhr die Weltöffentlichkeit lange nichts. So musste der Eindruck entstehen, der Computer sei eine amerikanische Erfindung. Erst nach und nach sollte sich die Wahrheit durchsetzten. Heute wird kaum noch ernsthaft bestritten, dass die in meiner Berliner Werkstatt 1941 fertig gestellte Z3 der erste zufrieden stellend arbeitende Computer der Welt war. (CmL: 96)
Zuse gebraucht das Wort „Computer“ anders als Kittler, indem er es auf seine Maschinen und auf COLOSSUS anwendet. Sicherlich hält er die Programmierbarkeit von bedingten Sprungbefehlen nicht für eine notwendige Eigenschaft von Computern, wenn er einräumt, dass die Z1-Z4 keine erlaubten. Er folgt offensichtlich den Kriterien: Programmierbare Rechenmaschine mit Speicher. Dazu kompatibel schreibt das Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin (ZIB) in der für das World Wide Web praktischen Kürze und Sprache die Kriegsbiographie Zuses als Geschichte seiner Computer:
1938 Completion of Z1, a fully mechanical programmable digital computer (test model). This model never functioned in practice for reasons of lack of perfection of the mechanical elements. ( A rebuilt model can be seen in the Berlin Museum für Verkehr und Technik.)

1940 Completation of Z2, the first fully functioning electro mechanical computer of the world.

1941 Development of Z3. First realisation of a programm control using binary digits.

1945/46 Development of Plankalkül (plan calculus), perhaps the wold’s first programming language, a predecessor of the modern algorithmic programming languages also including concepts of logic programming. (ZIB: zuse.html; 17. März. 1997)
Durch diese Gebrauchsverwirrung sind wir darauf aufmerksam geworden, dass es in der Literatur über Computergeschichte von mehr oder minder subtilen und mehr oder minder deutlich definierten Unterscheidungen bei der Bedeutung von „Computer“ nur so wimmelt. Hodges z. B. nennt, sicherlich wegen der relativen Abhängigkeit von den Problemen der Kryptologie, COLOSSUS schlicht Maschine. Auch Zuses erste Konstruktionen scheinen ihm für das Prädikat Computer noch nicht reif genug zu sein, er schreibt:
Es waren tatsächlich genau einhundert Jahre seit der Erfindung der Analytischen Maschine vergangen, bis es substantiell neue Entwicklungen sowohl in der Theorie als auch für die Konstruktion einer derartigen universellen Maschine gab. [...]
Die erste Entwicklung hatte es in der Tat 1937 in Deutschland gegeben, im Berliner Domizil von Konrad Zuse, einem Ingenieur, der viele von Babbages Ideen wieder entdeckt hatte, wenn auch nicht die der bedingten Sprünge. Wie auch Babbages Maschine war seine zuerst entworfene Maschine, die tatsächlich 1938 fertig gestellt wurde, mechanisch und nicht elektrisch. [...] Zuse war schnell dazu übergegangen, weitere Versionen seiner Maschine zu konstruieren, in denen er von elektromagnetischen Elementen Gebrauch machte. Mit Mitarbeitern experimentierte er vor Ende des Krieges mit Elektronik. (E: 344)
Hodges gibt zwei Seiten vorher zumindest in einer Fußnote eine Definition an, die seine Entscheidung bei der Verwendung von „Computer“ plausibel macht. Darin steht, dass er in seinem Text fortan Maschinen der Art des „automatischen, elektronischen, digitalen Computers mit interner Speicherung“ mit dem Wort „Computer“ bezeichnen wolle (Vgl. E: 340). Spätestens mit dieser doch ziemlich eingeschränkten, aber sicherlich auf alle heute handelsüblichen Computer zutreffenden, Bedeutung zeigen sich alle Autoren einverstanden. Die Geister der Wissenschaftler scheiden sich von allem dort, wo es um den ersten funktionierenden Computer geht; man kann ihn nämlich – je nach Kriterium – nach Deutschland (Z3), England (COLOSSUS), oder in die USA (wie etwa in der „ENIAC-Story“ in der es heißt: „The world’s first electronic digital computer was developed by Army Ordance to compute World War II ballistic firing tables“ (Eniac-Story.html; 17.Mrz.1997) verlegen und damit auf verschiedene Weise mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpfen.

Leider haben wir – weil wir hier Texte und keine Menschen versammelt haben – nicht die Chance Lockes, zu bitten, man möge, ehe man sich weiter streite, zunächst prüfen, was das Wort „Computer“ bedeute, um sich dann auf eine deutliche Menge von notwendigen und hinreichenden Bedingungen für seine Verwendung zu einigen.

Wir verwenden in diesem Text die oben genannten Minimalbedingungen für „Computer“, d. h. das Wort im weitesten Sinne zu gebrauchen: als Programmierbare Rechenmaschine mit Speicher. Nach dieser Bedeutung sieht die Erkenntnis derzeit so aus, dass Charles Babbage 1843 das Konzept des Computers erfunden hat, und Konrad Zuse 1941 einen „zufrieden stellend funktionierenden“ Computer vorführen konnte. Dies ist gewissermaßen eher eine stilistische Entscheidung als eine inhaltliche, da wir uns – wenn man schärfere „Computer“-Bedingungen anlegen möchte – für unsere These damit zufrieden geben, dass die Geschichte, die wir im folgenden darstellen, unabhängig von den Entwicklungen in England und den USA und unabhängig vom Zweiten Weltkrieg auf den vollautomatischen, elektronischen, programmierbaren, digitalen Computer mit internem Speicher und bedingten Sprungbefehlen hinauslief.

Anders als in der Biografie Turings oder auch in der „ENIAC-Story“ findet der Zweite Weltkrieg in der o. g. ZIB-Kurzbiografie Zuses keine Würdigung, – nicht einmal Erwähnung. Das ist auch nicht nötig, denn Weltkrieg II hat keinen produktiven Einfluss auf Zuse ausgeübt. Das Gegenteil ist der Fall gewesen.
Nach dem Studium [Dipl.-Ing.] wurde ich Statiker bei den Henschel Flugzeugwerken. Es war das Jahr 1935. Aber ich gab diese Stelle bald auf und richtete mir eine Erfinderwerkstatt in der Wohnung meiner Eltern ein. Ich wollte mich ganz dem Computer widmen können.(CmL: 30)
So beschreibt Konrad Zuse in seiner Autobiographie „Der Computer – Mein Lebenswerk“ seine Ausgangslage. Die Erfinderwerkstatt eines besessenen Bastlers im Edisonschen Stil. Eine klassische Gründerstimmung im Privaten und Geheimen. Nur die engsten Vertrauten wurden eingeweiht, die alle fest „an ihn und seine Erfindung glaubten“. Die ebenfalls von seinen Fähigkeiten überzeugten Eltern überließen ihrem Erfindersohn das große Wohnzimmer ihrer Wohnung, Freunde und Verwandte halfen mit Geld und Arbeit. Die Mutter kochte für die versammelten Erfinder; der zu der Zeit schon pensionierte Vater Zuse „ließ sich wieder für ein Jahr reaktivieren, seine Schwester steuerte ihr Gehalt dazu, [...] [ein Freund] schickte einen Teil seines geringen Refrendar-Einkommens.“ „[U]nd am Ende waren etliche Tausend Mark zusammengekommen.“ Das behelfsmäßig Genial-Dilettantische an der Gründerzeit der Zusecomputer beschrieben die Studienfreunde, die Konrad („Kuno“) Zuse bei der „Transpiraton, die auf die Inspiration folgt“ mit Kopf und Körper weiterhalfen, besser als wir, die wir kleine Erfinderwerkstätten nur aus alten Büchern kennen, das könnten:
Natürlich verstand ich als mathematisch geschulter Mensch das Prinzip und das Vorhaben, ich war aber nicht in der Lage, zu verstehen, wie z. B. das Speicherwerk seiner utopischen Maschine funktionieren sollte. Was war nun meine Aufgabe? Nun, in der Hauptsache habe ich die Blechrelais für die erste Maschine, die heute unter der Bezeichnung „Z1“ in die Geschichte eingegangen ist, gebastelt. [...] Kuno zeichnete die Form exakt auf Papier. Ich klebte das Papier auf ein Sperrholzbrettchen, befestigte zwischen diesem und einem zweiten Brettchen, das unten lag, die Anzahl der nötigen Bleche, schraubte die zwei Brettchen mit Gewindeschrauben zusammen und sägte mit einer kleinen elektrischen Laubsäge die Form der Relais aus. Diese Relais fertigte ich zu Tausenden. Das war meine Hauptaufgabe. [...] Ich bin ehrlich genug zu sagen, dass ich blind arbeitete und nicht genau wusste, wie dieses Monstrum, das da entstand, einmal arbeiten sollte. Und trotzdem, war die Maschine einmal fertig, arbeitete sie unter heillosem Gerassel und gab die exakten Lösungen für komplizierte Aufgaben. Sie nahm fast das ganze Wohnzimmer ein. Sie war nicht mehr aus der Wohnung zu entfernen. Ich glaube, erst nach der Zerbombung des Hauses konnte diese erste Zuse-Universal- Rechenmaschine im Kriege ins Museum geschafft werden. (Andreas Grohmann in CmL: 32)
Mit seinen ersten Computern hat Zuse von Anfang an einen universellen Ansatz verfolgt. Schon 1937 finden sich in seinen in Stenografie verfassten Tagebüchern Notizen zum „Mechanischen Gehirn“, das sämtliche Denkaufgaben lösen soll, die von Mechanismen erfassbar sind. Wohl weil Zuse ausgebildeter Bauingenieur gewesen ist, orientierten sich seine Testläufe vorwiegend an Problemen der Baustatik. Seinen verblüfften Koingenieuren erklärte er aber, dass seine Maschinen dereinst sogar imstande sein würden, Großmeister im Schach zu schlagen. Zuse-Hilfserfinder Walther Buttmann schreibt:
Eine Maschine erfinden zu müssen, die dem Ingenieur stures Wiederholen von Rechengängen, besonders langen, wie bei Matrizen, abnimmt, leuchtete uns Studenten ein. Aber Zuse machte uns klar, dass Rechnen nur ein Spezialfall logischer Operationen ist und dass sein Apparat auch Schach spielen können müsse. (Walter Buttmann in CmL: 33)
Um weitgehend von dem Problem loszukommen, dass alle damals bekannten Rechenmaschinen „noch stark an die zu lösenden Aufgaben gebunden“ gewesen sind, erfand Zuse die Programmierbarkeit:

In der Statik waren für immer wiederkehrende Rechnungen sog. Rechenformulare üblich. Formeln wurden so umgesetzt, dass Festwerte vorgedruckt, nebeneinander eingetragene Zahlen zu multiplizieren und untereinander eingetragene Zahlen zu addieren waren. Diese Rechenformulare machte Zuse zunächst für seine Rechenmaschine lediglich maschinell lesbar, indem er die Zahlenwerte einlochte. Die „Abfühl- und Locheinheit“ musste allerdings noch von Hand an die richtigen Felder der Rechenformulare bewegt werden. Daraufhin ersetzte er die nur einmal verwendbaren Lochkarten durch ein Register, auf dem die Zahlen durch verriegelbare Stifte gespeichert wurden, und die manuelle Fortführung der „Abfühl- und Locheinheit“ durch eine maschinell gesteuerte X/Y-Führung. So war ein automatisches Lesen des Registers möglich. Doch Zuse suchte eine allgemeinere Lösung:
Die bisherige Konstruktion baut immer noch auf der Idee des Rechenformulars auf. Es muss ein Freieres Schema gefunden werden, gewissermaßen ein „universelles Superformular“.(CmL: 167)
Ihm wurde klar, dass durch das maschinelle Auswerten des Registers – im Gegensatz zum vom Menschen zu lesenden Formular – nur noch wichtig war, wo welcher Wert gespeichert wurde. Er hatte einen universellen Zahlenspeicher geschaffen.
Anstelle der topologischen Anordnung der Werte einer Formel entsprechend, kann die einfache Durchnummerierung der Werte und der zugeordneten Register treten. Damit war das schon von Babbage entwickelte Verfahren des Rechenplanes oder Programms, wie wir heute sagen, neu erfunden. (CmL: 168)
Diese Stift-Register waren jedoch für größere Speicherkapazität nicht zu gebrauchen, und andere Versuche Dezimalzahlen zu speichern, scheiterteten am mechanischen Aufwand. Durch logische Überlegungen, angeregt von der Lektüre zunächst Leibniz’ Dyadik (Leibniz’ Bezeichnung für das Binärsystem), und später des Aussagenkalküls (in etwa vergleichbar mit der Boolschen Logik) der Logiker Hilbert, Ackermann, Frege und Schröder, fand er zur mechanischen Schaltgliedtechnik. Zuse speicherte jetzt nur noch Kombinationen von Ja-Nein- Werten, auch die Auswahl- und Übertragungseinrichtungen arbeiteten digital.
Wenn einmal der Schritt fort vom Dezimalsystem gewagt ist, kann man auch die Numerierung der Speicherzellen im binären Zahlensystem durchführen. [...] Dieser Erfolg verlockte natürlich dazu, auch den Rechner und alle übrigen Teile der Gesamtanlage nach diesem Prinzip zu bauen. (CmL: 171f.)
Will man bei der Erklärung für den Beginn der Entwicklung des Computers in Deutschland eine Struktur und kein „Ich“ bemühen, so muss man diese also eher bei den Rechenformularen der Baustatiker suchen, als in den Kryptogrammen des Zweiten Weltkrieges.

1938, wie gesagt, war die seit hundert Jahren vergessene Computertechnik, ohne den Druck, den die Probleme der Informationsverarbeitung im Krieg bereiten, mit der praktischen Neuerung Digitaltechnik wieder aufgetaucht. Keine kreative Struktur, wie in Bletchley, sondern ein einzelner kreativer Kopf hat das Ergebnis eines hektischen, gigantischen Aufklärungsbetriebes in seiner privaten Werkstatt ebenfalls formuliert; – zeitgleich und unabhängig. Er kehrte den festgefahrenen Technischen Universitäten, an denen er ständig zu hören bekam, dass alles was überhaupt möglich sei in der Rechnertechnik, auch schon gemacht würde, den Rücken und bastelte in Eigenregie sein Zeug zusammen. Dem hoch gesponserten COLOSSUS in England (es standen Bletchley die Produktionsmittel einer ganzen Fabrik und unzählige Arbeitskräfte zur Verfügung) stehen in Deutschland die Low-Budget-Computer der Z(use)-Serie gegenüber. Sie sind nie gegeneinander ausgespielt worden.

Für Zuse, seine Kollegen und seine Maschinen spielte der Zweite Weltkrieg eine düstere, destruktive Rolle. Viel mehr als von der knappen Förderung einer späten Teilfinanzierung der Z3, die ihn auch nicht davon befreite, seine Computer größtenteils aus Abfällen zusammenbauen zu müssen, erzählt seine Biografie davon, wie es gelang, den Z4-Computer (und viel zu wenig Unterlagen), davor zu retten, bei Blitzkrieg oder Totalmobilmachung oder Berliner Bombenhagel, in die Asche des Vergessens zurückgefeuert zu werden. „[N]icht viel hat gefehlt, dass Zuses Binärrechner, statt das Schicksal der V2 erst im letzten Augenblick unter Harz-Felsen zu kreuzen, schon von Anbeginn den freien Raketenflug programmiert hätten“ (GFT: 373) glaubt der Kriegs- und Medientheoretiker Friedrich Kittler; – viel weniger hat gefehlt, dass Zuses Computer unter den Trümmern Berlins, und der junge Soldat Zuse in irgendeinem der namenlosen Massengräber, die dem größenwahnsinnigen Naziversuch einer „Eroberung neuen Lebensraums im Osten“ folgten, spurlos begraben worden wären. Wenn V2-Wissenschaftler Wernher von Braun 1939 eine „Aufgabensammlung“ an die deutschen Universitäten zusammengestellt hat, in der auch „der erste Versuch einer elektronischen Digitalrechnung“ verlangt worden ist (Vgl. GFT: 373), dann ist sie dort auf ziemlich taube Ohren oder Köpfe gestoßen: Kein Auftrag oder Befehl, keine Dringlichkeitsbescheinigung und keine ausreichenden Produktionshilfen des Militärs, haben den Ingenieur erreicht, der diesen Versuch schon längst erfolgreich begonnen hatte. Was ihn trotzdem erreicht hat, das sind zwei Einberufungen gewesen.

Die erste kam Ende 1939, als die Arbeit an der Z2 kurz vor dem Abschluss stand. Ein mit Zuse bekannter Spezialist für Rechenmaschinen, Dr. Pannke, der auch die Z2 mit Geldmitteln gefördert hatte, versuchte, eine Beurlaubung für Zuse zu erreichen, indem er einen Brief verfasste. Zuse dazu:
Er schrieb sinngemäß, ich arbeite an einer großen wissenschaftlichen Rechenmaschine, die auch im Flugzeugbau verwendet werden könne. Dieses Schreiben übergab ich meinem Hauptmann, der es sogleich weiterleitete. Der Bataillonskommandeur, ein Major, bestellte mich zu sich, eröffnete mir zunächst, dass ich als junger Soldat ohnehin kein Recht auf Urlaub hätte, und fuhr fort: „Was heißt hier, Ihre Maschine kann im Flugzeugbau verwendet werden? Die deutsche Luftwaffe ist tadellos, was braucht da noch berechnet zu werden?“ – Was hätte ich darauf erwidern sollen? Der Urlaub wurde nicht gewährt. (CmL: 50)
Zum Glück für Zuse und seine Rechner, war er in der Eifel stationiert, wurde dort in keine Schlacht verwickelt, und hatte so in dem halben Jahr, das sein erster Militärdienst dauerte, genügend Zeit, sich mit Logik zu beschäftigen. „Mein Hauptmann wusste, woran ich arbeitete, und stellte mir zeitweise sogar sein Zimmer zur Verfügung, damit ich in Ruhe meinen Studien nachgehen konnte“(CmL: 51) bemerkt Zuse eine kleine Anerkennung innerhalb der Ablehnung. Wenn der Krieg für Zuse und seine gedankliche Entwicklung etwas getan hat, dann hat er ihm den Abstand von der konkreten Maschine besorgt, den es manchmal braucht, um einen theoretischen Schritt weiter zu kommen. In Zuses Eifelzeit fällt auch seine kurze Beschäftigung mit Kryptologie; er entwarf ein Chiffriergerät, das mit binärer Addition arbeiten sollte. Der Entwurf wurde vom Heereswaffenamt mit dem Verweis auf die Enigma abgelehnt; anders den englischen entging den deutschen Kommunikationsstrategen damals der Punkt: Computer als Medium völlig; diese Chance blieb verpasst. Zuses Erfinderbriefe ans Amt sorgten aber wenigstens dafür, dass man ihn auf Besprechungen nach Berlin einlud, die es ihm möglich machten, seine Computer-Ideen verschiedenen Leuten vorzustellen. Er hatte keine Chance, eine „uk“ (Unabkömmlichkeitsstellung) für ein Computerprojekt zu bekommen; es war kein Interesse vorhanden. Zuse- Coerfinder Helmut Schreyer, der sofort, als er die Z1 gesehen hatte, meinte „das musst Du mit Röhren machen“, und eine Röhrenschaltung entwarf, hatte 1939 ebenso wenig Erfolg bei den Behörden:
Er schlug vor, eine Röhrenmaschine zu entwickeln, die unter anderem zur Flugabwehr geeignet sein würde. Auf die Frage, wie lange er für die Entwicklung wohl brauche, entgegnete er vorsichtig: „Etwa zwei Jahre.“ – „Ja, was glauben sie denn, wann wir den Krieg gewonnen haben?“ war die Antwort. (CmL: 53)
Für das „tausendjährige Reich“ war kein Computer vorgesehen. Nirgends. Eine traurige Vision, wie wir finden ...

Zuses Beruf, nicht seine Berufung, ist letztlich das gewesen, was ihn vom Militärdienst befreite. In Berlin, bei seinen Versuchen, jemanden für den Computer zu begeistern, lernte er Professor Herbert Wagner kennen:
Er war Leiter der Sonderabteilung F bei den Henschel-Flugzeug-Werken und entwickelte dort ferngesteuerte Bomben. „Ihre Rechnerentwicklung ist sicher sehr interessant, aber dafür kann ich Sie nicht vom Militärdienst befreien. Ich kann aber einen Statiker gebrauchen.“ meinte er. (CmL: 53)
So kam er zurück nach Berlin, zurück zu seiner Z2, an der er neben der Arbeit in den Henschel-Werken am Abend und an den Wochenenden weiterarbeitete, bis sie schließlich 1940 „einigermaßen vorführbereit“ gewesen ist. Sie funktionierte nicht besonders gut, was daran lag, dass sie aus alten Telefonrelais zusammengebaut worden war, die für diese Anforderungen einfach nicht taugten. Dennoch gelang es, den Leiter der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, Professor Bock, soweit dafür zu interessieren, dass er eine Teilfinanzierung der bereits begonnenen Z3 bewilligte. Es scheint aber eher eine respektvolle Duldung Zuses, als ein brennendes Interesse im Spiel gewesen zu sein. Zum einen wurde auch die Z3 „zum größten Teil aus Altmaterial gebaut“ (CmL: 56), was bei einer für echt kriegswichtig gehaltenen Produktion sicher nicht der Fall gewesen wäre, zum anderen war seine versuchsanstaltsgeförderte Bastelei weiterhin von seinem Job abhängig:
Die Z3 wurde während des Krieges mehreren Dienststellen vorgeführt; sie wurde indes nie für den Routinebetrieb eingesetzt. Dazu wäre unter anderem meine Unabkömmlichkeitsstellung für diese Aufgabe nötig gewesen. Offiziell aber galt die Z3 nicht als dringlich. Sie wurde mehr oder weniger als Spielerei und als Privatvergnügen meiner Freunde und mir angesehen. Meine „uk-Stellung“ galt nach wie vor ausschließlich für meine Tätigkeit als Statiker.(CmL: 57)
Die verlor er auch beinahe 1941, als weiteres Kanonenfutter für die Ostfront benötigt wurde: die zweite Einberufung flatterte ihm ins Haus. Noch während seines Marsches in Richtung Osten wurde Zuses „uk“ bei den Henschel-Werken jedoch überraschend erneuert. Er durfte umdrehen. Der glückliche Zuse schreibt dazu: „Das Schicksal, sagte ich mir, hatte entschieden, dass ich [...] weiterarbeiten durfte.“ (CmL: 57) Wir halten es nicht für ausgeschlossen, dass hier einige hellsichtige Mächtige dem Schicksal ein bisschen auf die Sprünge geholfen haben. Die Zeiten wurden nämlich etwas besser für den Privaterfinder Konrad Zuse.

Für die Arbeit an der Z4, die 1942 begann, konnte er mitten im Krieg, neben seiner jetzt nur noch Teilzeit-Arbeit in den Henschel-Werken, eine fast zivile Firma gründen; die „Zuse Ingenieurbüro und Apparatebau, Berlin“. Zivil war sie insofern, als sie nur Personal bekommen konnte, die vom Krieg übriggelassen worden sind: Ungelernte Frauen, Diebe, Invalide und Verrückte. (Vgl. CmL: 58&72)Arbeitskräfte für Projekte ohne Prioritäten. Qualifizierte Techniker musste er sich bei den Henschel-Werken und vom Fernsprechamt stunden- oder tageweise ausleihen. Die Materialbeschaffung lief häufig unter der Hand ab, weil für eine offizielle Beschaffung die Dringlichkeit nicht reichte. Immer wieder mussten Einzelteile aus „Abfallkisten“ zusammengesucht werden oder konnten irgendwo abgestaubt werden. Nicht zivil war sie natürlich insofern, als im Nazideutschland von 1942 überhaupt nichts mehr ohne militärische Erlaubnis ablief. Jeder „zivile“ Arbeiter brauchte eine „uk“, jede Produktion einen Befehl. Zuse trickste sich und seine Computerfirma durch den Krieg so gut es ging. Sehr gut ging es nicht; er gelangte nie unter den Schutz und an das Geld drängender Kriegswichtigkeit. Zuse hat deshalb nichts extra für den Krieg erfunden; – er hat sich mit ihm arrangiert.

Das einzige Arrangement, welches das Papier der Entwürfe und Verträge verließ – die Konstruktionen der Z-Computer orientierten sich sämtlich an der Mathematik der Baustatik (Vgl. FzK: 12), Zuses Chiffrierer wurde nie gebaut – ist die S1 gewesen; ein Spezialcomputer, der in den Henschel-Werken 1942-1944 für die Flügelvermessung ferngesteuerter fliegender Bomben eingesetzt worden ist. Es braucht schon einen stark usurpatorischen Begriff von Heeresgerät, um aus diesem Punkt eine kriegsbedingte Entwicklung des Computers in Deutschland zu schließen. Soweit es sich aus Zuses Text herauslesen lässt, ist die S1 keine besondere Neuerung, sondern eine Anwendung von Zuses Wissen gewesen. Wir neigen dazu, wegen der privaten, bürgerlichen Karriere dieses Wissens, den Missbrauchssatz an dieser Stelle anders herum anzubringen: Die S1 ist kriegerischer Missbrauch von Zivilgerät gewesen.

„Der feindliche Ring um Deutschland freilich zog sich 1944 mehr und mehr zusammen. Bald ging es nur noch ums Überleben. Die Arbeitsverhältnisse wurden immer unerträglicher. Es erschien notwendig, meinen Betrieb zu evakuieren.“ (CmL: 72) beginnt Zuse den Bericht der bombengescheuchten Reise, die er, seine Mitarbeiter und die Z4 angetreten haben. (Z1-3, sowie die S1, blieben in Berlin und wurden dort zerstört.) Sie ging über Göttingen und endete kurz nach dem Krieg in Hinterstein im Allgäu. Unterwegs „kreuzte“ sie in der Tat das Schicksal der V2 unter Harz-Felsen (Kittler). Eine Formulierung, die eine Intention suggeriert, die bei Zuse an keiner Stelle zu finden ist:
Die meisten Versuchsgeräte waren schon durch den Bombenkrieg zerstört oder beschädigt, aber die Z4 stand kurz vor der Vollendung. Sie hieß damals noch nicht Z4 sondern V4, was nicht mehr war, als eine Abkürzung für Versuchsmodell 4. Der Gleichklang dieser Abkürzung mit der für die so genannten Vergeltungswaffen V1 und V2 hat unseren Computer gerettet: „Die V4 muss aus Berlin in Sicherheit gebracht werden“, lautete die Parole. Sie stammte natürlich von Dr. Funk [einem findigen Henschel-Zuse Mitarbeiter]. [...] Schließlich erhielten wir den „Befehl“, sie in eines der unterirdischen Rüstungswerke zu bringen. Der erste Besuch dort war selbst für uns, die wir durch den Berliner Bombenkrieg allerhand gewohnt waren, erschütternd. Zum ersten Mal standen wir der unmenschlichen Grausamkeit des Dritten Reichs gegenüber. In kilometerlangen Stollen arbeiteten zwanzigtausend KZ-Häftlinge unter unvorstellbaren Bedingungen. [...] Nach dem Besuch sagten wir uns: Überall hin nur nicht hierher! Wir ließen uns lediglich einen Wehrmachtslastwagen mit Anhänger geben, mit dem wir das Gerät transportieren konnten. (CmL: 81)
Unter Harz-Felsen zeigte Zuse nach Zuse mehr als nur „eine gewisse Scheu“, hier hatte das Arrangieren mit dem Krieg und mit den Nazis ein jähes Ende. Der Moralist Zuse wollte lieber seine Maschine, als die Verantwortung des Wissenschaftlers aus den Augen verlieren. Die Flucht ins Allgäu glückte knapp.

Soweit die Kriegsgeschichte Zuses, die trotz des Zweiten Weltkriegs zum Computer – in der strengen Bedeutung des Wortes – führte. Die Z3 hatte folgende Eigenschaften: Elektromagnetisches Rechenwerk; Binäres Zahlensystem; Gleitendes Komma; Wortlänge 22 Bit; Speicherkapazität 64 Worte; Steuerung über 8-Kanal-Lochstreifen (d. h. dass ein Befehl aus 8 Bit bestand); Eingabe über eine Spezialtastatur, bei welcher die Lage des Kommas relativ zu vier Dezimalstellen eingestellt werden konnte; Geschwindigkeit: etwa 3 Sekunden für Multiplikation, Division bzw. Quadratwurzelziehen. (CmL: 55) Die Z4 „was essentially the same computer as the Z3 except that it had a word length of 32 bits. (Z1-Z4.html; 17. Mrz. 1997)“ Was noch fehlte, waren die bedingten Sprünge: diese Scheu hat Zuse bei der Arbeit am Plankalkül und der Weiterentwicklung der Z4 sehr schnell überwunden, und das Attribut elektronisch. Dazu sind aber, wie gesagt, die grundlegenden Ideen bereits 1939 entwickelt worden; einen Röhrencomputer zu bauen ist bloß zu teuer gewesen, Anfänge hat es trotz allen Mangels doch gegeben:
Schreyers Problem beim Bau dieses Versuchsmodells war, dass er Spezialröhren mit zwei parallelen Gittern benötigte und dass er, jedenfalls offiziell, für eine derartige Sonderentwicklung keine ausreichende Dringlichkeitsstufe bekam. Wir hatten aber einen guten Freund, der Entwicklungsingenieur bei Telefunken war und den Mut hatte, die Entwicklung und Fertigung dieser Röhren zwischen die kriegswichtigen sonstigen Arbeiten in seinem Labor hineinzumogeln.(CmL: 69)
Es ist also im Wesentlichen alles da gewesen, außer ausreichenden Produktionmitteln. Die Computergeschichte hat sich noch im II. WK einen schmalen zivilen Parallelweg gepflastert.


Was vom Kriege übrig blieb

Und der wurde – hier liegt die häufigere, hässliche Seite einer Münze, die immer keiner werfen will – durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs abgerissen.

Der Computerhistoriker Reinhard Keil-Slavik schreibt:
Der Zusammenbruch des Hitler-Faschismus setzt der deutschen Rechnerentwicklung vorerst ein Ende. Im Rahmen der nationalen und internationalen Entwicklung der Informatik sind Zuses Arbeiten lediglich von historischem Wert. Zwanzig Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs gibt es die von Zuse gegründete Firma nicht mehr. Sie ist von dem größten deutschen Rechnerhersteller, der Siemens AG, aufgekauft worden. Doch auch bei Siemens ist der deutliche Einfluss der amerikanischen Entwicklung sichtbar geworden. (FzK: 12)
Auch die Engländer konnten einen anfänglichen Vorsprung vor den Amerikanern nicht halten. Die heutigen Computer stammen alle in direkter Linie vom amerikanischen ENIAC ab, wie ein von Keil-Slavik vorgestellter Computerstammbaum zeigt (Vgl: FzK: 16).

De facto also sind die Computer weiterentwickelte amerikanische Heeresgeräte. Ein Grund dafür wird sein, dass die kaputte europäische Wirtschaft andere Sorgen hatte, als sich irgendein millionenschweres Computerprojekt zu leisten. Ein anderer Grund ist die Bedrohungen und Gespinste des Kalten Krieges und die Gelder und Ideen die in Amerika deshalb in computergesteuerte Verteidigungssysteme investiert worden sind.

Die Geschichte Zuses ist selbstredend kein Beweis gegen die produktiven Einfluss von Kriegen auf technische Entwicklungen. Wir haben die spezielle Medienproduktionsdynamik die in Kriegen steckt auch ausführlich dargestellt. Sie greift aber nicht immer und überall. Die „Z-Story“ zeigt deutlich, dass der Krieg nicht unbedingt „der Vater aller Medien ist“ (EGU: 130), wie Kittlers Meinungspartner Norbert Bolz schreibt. Ein Erfinder des Neuen Mediums Computer stand zu Hause in Zivil vor seiner Maschine. Er selbst deutet eine zweite Macht an, die durchaus Vaterschaften übernehmen kann:
Nur zu oft ist der Erfinder der faustische Idealist, der die Welt verbessern möchte, aber an den harten Realitäten scheitert. Will er seine Ideen durchsetzen, muss er sich mit Mächten einlassen, deren Realitätssinn schärfer und ausgeprägter ist. In der heutigen Zeit sind solche Mächte [...] vornehmlich Militärs und Manager. So ist etwa die amerikanische Computerentwicklung – oder gar die Raumfahrt – gar nicht denkbar ohne die Unterstützung des Militärs. Ich selber habe es mehr mit Managern und Wissenschaftlern zu tun gehabt. (CmL: X)
Wozu nun also war der Zweite Weltkrieg bei der Entwicklung des Computers notwendig? Für seine Erfindung?: Nein. Zuse wäre ohne WK II sicher besser zu Recht gekommen. Für die „Umstellung auf Massenproduktion“? Das ist wenigstens unklar. Leicht asymmetrisch zum Ersten Weltkrieg, in dessen Folge das Unterhaltungsgerät Radio eingeführt wurde, hat die massenhafte Einführung des Unterhaltungsgerätes Computer noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen. Dazu brauchte es neben den Produktionen, die ein halluzinierter Krieg – kein echter – bei der US-Army anspornte, denn doch noch die Management- und Marketingstrategien der Firmen IBM, Intel, Apple, Microsoft, und dergleichen mehr. Hier vermischen sich bereits die Mächte. Und das mediale Militäprojekt ARPA-Net aus dem kalten Friedensjahr 1963, aus dem das Internet erwuchs, verbreitet sich massenhaft erst heute, nach gut 50 Jahren zumindest von uns so genannter Nichtkriegszeit.


Literatur

Texte aus Büchern:
  • Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberggalaxis, München 1993 (EGU)
  • Hodges, Andrew: Alan Turing, Enigma, Wien 1994 (E)
  • Hofstadter, Douglas:Gödel Escher Bach, Stuttgart 1985 (GEB)
  • Keil-Slawik, Reinhard: Von der Feuertafel zum Kamproboter, in J. Bickenbach u.a., Militarisierte Informatik, Berlin 1985 (FzK)
  • Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986 (GFT)
  • Kleist, Heinrich von, Entwurf einer Bombenpost, in: ders. Sämtliche Werke und Briefe, Darmstadt 1980, Bd II, S. 385-388. (EeB)
  • Kozaczuk, Wladyslaw: Im Banne der Enigma, Berlin 1987 (BdE)
  • Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand Bd II, Hamburg 1988 (VmV)
  • Pynchon, Thomas:Die Versteigerung von No. 49, Reinbeck 1980 (Vv49)
  • Schöning, Uwe: Theoretische Informatik kurz gefasst, Mannheim 1992 (TI)
  • Siegert, Bernhard: Relais – Geschicke der Weltliteratur als Epoche der Post, Berlin 1993 (R)
  • Zuse, Konrad: Der Computer – Mein Lebenswerk,Berlin 1986 (CmL)
Texte aus dem Internet:
  • Moye, William, ENIAC: The Army-Sponsored Revolution, http://ftp.arl..mil/~mike/comphist/96summary
  • Weik, Martin, The Eniac Story, http://ftp.arl.mil/~mike/comphist/eniac-story.html
  • Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin (ZIB), Konrad Zuse, http://www.zib-berlin.de/Prospect/zuse.html
  • Rogers, Harold, Z1-Z4, http://bang.lanl.gov/video/sunedu/computer/z1z4.html



Fußnoten

... sondern nur Verwirrung dabei herum:

Locke schreibt in VmV: 112 zum Beispiel: „Ich nahm einst an einer Zusammenkunft hochgelehrter und sehr geistvoller Ärzte teil, auf der zufällig die Frage aufgeworfen wurde, ob eine Flüssigkeit die Fasern der Nerven durchdringe. Die Debatte wurde eine ganze Weile von beiden Seiten mit den verschiedensten Argumenten geführt. Da bat ich (da sich mir schon immer der Verdacht aufgedrängt hatte, dass sich die meisten Streitigkeiten mehr um die Bedeutung der Wörter als um die reale Verschiedenheit der Dinge drehen), man möge, ehe man sich weiter streite, zunächst prüfen, was des Wort Flüssigkeit bedeute.“

Alan Turing war dieses Problem bekannt. In einem Brief schreibt er: „Lieber Young! Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass unsere Unstimmigkeiten hauptsächlich die Verwendung von Wörtern betreffen.“ (Turing an den Physiologen John Young, in E: 503)

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... so etwas wie ein Unlösbares Problem nicht gibt:

Hilbert: „Der Grund dafür, dass Compte kein unlösbares Problem finden konnte, liegt meiner Ansicht nach in der Tatsache, dass es so etwas wie ein unlösbares Problem nicht gibt.“ (E: 108) Es ist anzunehmen, dass Hilbert hier die Ansicht der meisten Naturwissenschaftler seiner Zeit ausspricht.

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... Zuse nach Zuse:

Da Kittler bei seiner geheimnisvollen Formulierung, dass die Z4 das Schicksal der V2 unter Harz-Felsen gekreuzt habe, vergleichend auf Hodges verweist, haben wir auch einmal verglichen.

Hodges schreibt: “Zuse Rechner [wurden] für die Entwicklung der V2-Raketen verwendet, während Zuse selbst 1945 in der unterirdischen Fabrik „Dora“ eingesetzt wurde.“ (E: 344)

Wir haben daraufhin Hodges, der in Enigma Zuses Der Computer – mein Lebenswerk als einzige Referenz angibt, gefragt, wie er zu dieser Zuse widersprechenden Darstellung gelangt sei.

Hodges Antwort:

There is no contradiction – simply my mistake. [...] It is the worst mistake that has come to light. [...] It surprises me that no-one has noticed this error before; not even in the seven years in which it has been available in German translation.

Das hat uns allerdings auch gewundert ...

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 28. Juni 2000