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Joschkas Klüngelbeutel
Christian Schmidt in junge Welt 6. September 1998


Über die Komplexität dieser Welt nicht nur als Wille und Vorstellung

Seltsame Koinzidenz. Gerade war Wir sind die Wahnsinnigen erschienen, da traf ich auf der Straße einen alten Bekannten, dem ich wohl bald 20 Jahre nicht mehr begegnet war. In der maoistischen Sekte, bei der auch ich zwischen meinem sechzehnten und neunzehnten Lebensjahr gerne mitgelaufen war und u. a. die rote Fahne der VR China tapfer geschwenkt hatte, war er einer der Eifrigsten gewesen. Später hatte natürlich auch er zur grünen Partei gefunden, dort irgendwie als „Ökolibertärer“ im Realolager mitgemischt, um heute im sog. „Haus der Demokratie“ zu Berlin-Mitte „Runde Tische“ mit Herrn Gauck, Frau Bohley, Herrn Thierse et. al. zu organisieren. Wir kamen vor einem thailändischen Imbiss zu sitzen, und der alte Bekannte erklärte mir gleich wieder die Welt. Dass es für uns an der Zeit sei, gesellschaftliche Konflikte im Konsens zu lösen, nachdem doch der Konfrontationskurs resp. Klassenkampf der letzten hundert Jahre nichts als Elend eingebracht habe. Dass wir tunlichst nicht mehr das schlimme Wörtchen „Sozialismus“ in den Mund nehmen sollten, denn dieser Begriff sei mit Recht ähnlich diskreditiert wie der Ruf des Medikaments Contergan. Und dass es nach den heute glücklicherweise vorliegenden Erkenntnissen der Chaosforschung sehr fraglich sei, ob man gesellschaftliche Prozesse überhaupt noch steuern könne: denn schließlich sei unsere postmoderne Gesellschaft und Welt so überaus unübersichtlich und verdammt komplex organisiert – oder doch eher gar nicht organisiert.

Das mag vielleicht so sein, wenn auch mir die Welt immer noch einigermaßen schlicht eingerichtet zu sein scheint. So habe ich sie auch in meinem Buch beschrieben, wo Cohn-Bendit, Fischer und Konsorten als Anführer einer Bande auftreten, die Politik lediglich um des eigenen Vorteils willen betreiben, die Gelaber mit Analyse verwechseln, die eine Politik propagieren, die sich auch nicht mehr in Nuancen von denen der „Altparteien“ unterscheidet, und die sich damit auf breiter Front in der grünen Partei durchsetzten. Wen wundert’s, dass diese Sicht der Dinge Widerspruch hervorgerufen hat. Aber was macht die Welt? Sie lässt einfach nicht locker, sondern tut alles, um mein Urteil zu bestätigen.

Zum Beispiel in der Gestalt des „Spiegel“-Redakteurs Reinhard Mohr. Auch dieser Mann entstammt dem von mir beschriebenen Frankfurter Sponti-Klüngel. Und er wird deshalb in meinem Buch gewissermaßen als Kronzeuge zitiert. Wenn ich zum Beispiel schildere, wie Fischer und Co. sich 1982 aus purer lebensperspektivischer Verzweiflung auf die Grünen stürzten, um dann diese Partei binnen kürzester Zeit zu usurpieren, und wie sie dabei vom Zentralorgan der Frankfurter Spontis, dem „Pflasterstrand“, massiv unterstützt wurden, dann stütze ich mich u. a. auch auf einen zweiseitigen Leserbrief aus dieser Zeit – von eben diesem Reinhard Mohr. „Eine letzte Hysterie“ nennt Herr Mohr hier die realpolitische Wende der Spontis, geißelt kräftig „die Penetranz“ des agitatorischen „Trommelfeuers“ des „Pflasterstrand“ für diese Wende, warnt vor den „Machtphantasien“ der „Sponti-Realpolitiker“ und prophezeit „nach intensiver Lektüre der Reisepläne“ sehr hellsichtig, dass die von Fischers Leuten angepeilte grüne Realpolitik „ein grundjämmerliches Unternehmen sein wird“.

Allerdings verschweige ich in Wir sind die Wahnsinnigen auch nicht, dass Mohr wenige Jahre nach dieser klaren Stellungnahme ebenfalls noch sein realpolitisches Bekehrungserlebnis haben würde, „um dann“ – so steht’s bei mir geschrieben – „als ‚Spiegel‘-Redakteur für die Politik seines alten Stammes Reklame machen zu können“. Und als ob er unter einem geheimen Zwang stünde, mein Verdikt mit noch mehr Inhalt zu füllen, tut Mohr genau dieses prompt in einem „Spiegel“-Artikel, der sich ausführlich mit meinem Buch beschäftigt.

Was mir Mohr in diesem Verriss im einzelnen vorwirft, ist durchweg unerheblich oder mindestens ebenso amüsant wie der Umstand, dass der „Spiegel“-Redakteur den Aussagen des Sponti-Mohr von 1982 hundertpro widerspricht. Interessanter ist vielleicht die Tatsache, dass der „Spiegel“, unter dem Vorwand, Teile meines Buches vorabdrucken zu dürfen, 10 000 Mark an den Econ-Verlag überwies. Und dieses nur, damit mir Herr Mohr als erster ins Autoren-Stammbuch schreiben durfte: „Bei ihm (also bei mir! C. S.) findet alles eine Erklärung, und die unzähligen Widersprüchlichkeiten können immer wieder ins gleiche Schema eingepasst werden. Für die Welt draußen, die sich jeden Tag weiterentwickelt, für den lebendigen Widerstreit von Utopie, Hoffnung und Desillusionierung, ist da kein Platz.“ Da ist sie also schon wieder, die unglaubliche Komplexität der „Welt draußen“. Doch wie sollte sie auch den ihr zustehenden Platz bei mir finden, wenn das, was das assoziierte Fischer-Gang-Mitglied Reinhard Mohr zu seinem „Spiegel“-Verriss motiviert hat, so offen zutage liegt, dass es selbst mir schlichtem Gemüt ein Leichtes war, eben jenes in meinem Buch bereits vorherzusagen? Da sind die Experten gefragt.

Oder eine Expertin. Wie, nur mal als weiteres Beispiel, die just zur Kulturredaktionsleiterin der „Badischen Zeitung“ ernannte Elisabeth Kiderlen. Auch sie findet mein Buch nicht gut: „So einseitig und frei von jeder Widersprüchlichkeit hat noch nicht einmal Bert Brecht in den späten Lehrstücken seine Charaktermasken gezeichnet“. Machen wir’s in diesem Fall kurz: Auch Frau Kiderlen stammt aus der Frankfurter Sponti-Szene. Und bekleidete sechs Jahre lang den Posten einer hauptverantwortlichen Kulturredakteurin bei dem Blatt, das in meinem Buch ordentlich sein Fett wegkriegt, nämlich dem „Pflasterstrand“.

Vielleicht noch jemand, der mir die Widersprüchlichkeit dieser Welt erklären will? Schauen wir dazu noch fix in die August-Ausgabe der wegen ihrer vielen bunten Anzeigen tatsächlich sehr unübersichtlichen Hamburger Illustrierten „Max“. Hier trifft – o Schreck – auf zehn großen Farbseiten die neue deutsche Schlagermutti Nena („99 Luftballons“) den Mann, der ihr gefällt, „weil er mir – als einziger Politiker überhaupt – ein Lebensgefühl vermittelt. Ganz abgesehen davon, dass er als Mann sehr charmant und erotisch ist“. Gemeint ist die grüne Spinatwachtel Joschka Fischer.

Die bzw. der ist durchaus in der Lage, das von Nena vorgegebene Niveau zu halten: „Da hast Du völlig recht. Was Mozart an Hits produziert hat – der wäre heute Millionär. Aber zurück zum Pop: In England gibt es eine unglaublich kreative Pop-Szene. Warum stagniert sie bei uns?“ Auch sonst erfährt man einiges von dem, was den Außenminister in spe offenbar seit Jahren umtreibt: „Noch eine Frage an Dich, Nena. Ich habe lange über das Phänomen Guildo Horn nachgedacht. Warum wurde der so schnell populär?“ Vielleicht, weil immer dann, wenn’s mit einem Gesellschaftssystem ökonomisch und sozial rasant bergab geht, allgemeine Regression angesagt ist? Da will Herr Fischer nicht hintanstehen. Nachdem ihm Frau Nena am Ende des „privaten Gipfeltreffens“ („Max“) bereits „Ein bisschen Frieden“ vorgeträllert hat, wirft Joschka ein Schlagerstichwort nach dem anderen in die Runde: „Ich kann mich noch an Gitte erinnern: ‚Ich will ’nen Cowboy als Mann!‘“ Nena: „Einer meiner Lieblingsschlager! ... Wenn du willst, sing ich den ...“ Fischer: „Freddy Quinn war in meiner Kindheit sehr populär. ‚Seemann, lass das Träumen‘. ... Und ‚Brennend heißer Wüstensand, fern, so fern, das Heimatland‘. ... Die Filme mit Freddy Quinn hab ich alle gesehen.“

Zeigt sich aber hier nun nicht ein angehender großer Staatsmann in seiner ganzen Widersprüchlichkeit: Dort ernster politischer Denker, hie ganz Privat- und Gagamann? Und haben wir hier nicht das beste Beispiel dafür, dass sich die Verwirrnisse dieser Welt eben doch nicht auf bloßes Interesse und handfeste Motive reduzieren lassen? Nun, ich würde das allzu gerne glauben, wenn wir nicht gerade Wahlkampf hätten. Und das Gespräch Joschka – Nena nicht ausgerechnet von einem Mann arrangiert worden wäre, der, von mir als ideologischer Vor- und Nachbereiter der Fischer-Gang beschrieben, u. a. auch in meinem Buch vorkommt: nämlich der ehemalige revolutionäre Kampfgenosse von Joschka Fischer sowie zwischenzeitliche RAF-Bewunderer, der erst kürzlich als stellvertretender Chefredakteur aus der Redaktion der „Hamburger Morgenpost“ ausgeschiedene und sogleich zum Chefkorrespondenten der ultrakomplexen Springerzeitung „Die Welt“ beförderte – Thomas Schmid.

Noch Fragen? Ich nicht.
 6. September 1998