zurück | grüne kriegstreiber






Jugoslawien war erst der Anfang
Hans-Rüdiger Minow in telegraph 5. August 1999


Zur Kontinuität deutscher Außenpolitik

Warum benutzt Deutschland angebliche Rechtstitel, wie beim Angriffskrieg auf Jugoslawien, und tritt als Schutzmacht für „Menschenrechte“ auf? Wie sind die deutschen Expansionsmethoden gestrickt, dass sie sich insbesondere in Ost- und Südosteuropa entfalten können? Welche Abteilungen der deutschen Machtpolitik wenden sie an?

Wenn man diese Fragen beantworten will, fällt auf, dass die deutsche Machtpolitik, seit Bismarck bis heute, viel Zeit hatte, spezielle Methoden zu entwickeln, genauer gesagt: sie hatte 90 Jahre Zeit, denn in diesen 90 Jahren war sie militärisch gefesselt.

In diesen 90 von insgesamt 128 Jahren deutscher Außenpolitik sind Mittel gefragt, die sich insbesondere nicht-militärisch anwenden lassen und die erst in der Phase ihrer vollen Entfaltung nach Sprengstoff verlangen. Bereits bei Beginn deutscher Machtpolitik lässt sich das Muster erkennen. Ein Geographie-Professor aus Leipzig, Friedrich Ratzel mit Namen, empfiehlt den Deutschen „geographischen Sinn“ und plädiert 1897 für die „ethnographische Perspektive“. Er macht es seinen Landsleuten zur Aufgabe, dass „selbst im Inneren Afrikas für uns kein Saum unklarer Vorstellungen“ bestehen dürfe. Ratzel verlangt eine genaue Kenntnis der Stämme, ihrer Sprachen, Gewohnheiten und vor allem ihrer Widersprüche, um mit dieser Kenntnis Herrschaft auszuüben, sprich: um die inneren Kontroversen anderer Nationen, um das Gehader der „Völkchen“, wie sich Ratzel ausdrückt, in den Dienst der deutschen Außenpolitik zu stellen.

Ratzels Ansatz wurde fortlaufend systematisiert, insbesondere im 1.Weltkrieg. Hier ging es, nun schon präziser, um die „Völkchen“ im Osten und im Südosten Europas, die auch als „Rand- und Fremdvölker“ bezeichnet wurden. Man müsse den Stammesdünkel der „Völkchen“ zum Aufsprengen konkurrierender Nationen nutzen. Gemeint sind kleine oder große nationale Minderheiten, etwa Ukrainer in Russland, deren Autonomiebestrebungen hilfreich wären, um das Zarenreich zu lähmen. Die Deutschen, heißt es in den entsprechenden Denkschriften des auswärtigen Amtes weiter, müssten sich für die angeblichen Rechte dieser „Rand- und Fremdvölker“ einsetzen.

Deutschland müsse als Schutzmacht der Ethnien auftreten. In den Worten der deutschen Ministerialbürokratie: „Unsere Befreiersendung im Osten muss ... umrissen werden. Jedes einzelne Fremdvolk muss erwähnt werden ... Wir müssen es deutlich machen, dass wir ehrlich als Rechtsschützer an allen Randvölkern handeln wollen“. Hier klingt eine weitere Überlegung der deutschen Außenpolitik an: wenn man im Kostüm des „ehrlichen Rechtsschützers“, mit Herz für die „Völkchen“ und „Fremdvölker“, auftreten würde, ließe sich ein sittlicher Auftrag konstruieren, eine „Befreiersendung“ im Osten und Südosten Europas, ein ethisches Ziel.

Wie der ehrliche Rechtsschutz tatsächlich gemeint war, hatte gerade die Sowjetunion erfahren. Das Diktat von Brest-Litowsk führte zur Expatriierung von 46 Millionen Menschen – jene „Rand- und Fremdvölker“, die zu den nationalen Minderheiten gehörten, und deren Auszug aus dem gemeinsamen Staatsverband das Territorium des russischen Gegners schrumpfen ließ. Absicht war, die Abtrennung der „Rand- und Fremdvölker“ in die Gründung neuer Staaten münden zu lassen – kleinflächiger Staaten, durch Deutschland beherrschbar.

Erste These: Die spezielle Methode der deutschen Expansion zielt auf eine innere Zersetzung interessierender Länder, in denen Minderheiten aufgestachelt und einem sittlichen Schutzanspruch Deutschlands unterstellt werden. Dieses primär nicht-militärische Mittel der inneren Zersetzung von Staaten wurde von der deutschen Außenpolitik der 20er Jahre fortentwickelt. Hier erkennen wir nicht nur das Muster, sondern bereits eine organisatorische Struktur: Der deutsche Staat finanziert Vorfeldorganisationen seiner expansiven Außenpolitik, die sich das gesamte Material des nationalistischen Hasses, der Minderheitenwidersprüche und Autonomiebegehren in ganz Europa zu Eigen machen. Man fordert das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, meint damit aber nicht die Bevölkerung souveräner Staaten, sondern Minderheiten. Man zieht Kollaborateure insbesondere aus Ost- und Südosteuropa zusammen, wo die zahlreichsten Nationalitäten und Minderheitengruppen anzutreffen sind. Mit rumänischen Nationalisten arbeitet man ebenso wie mit jugoslawischen Rechtstitel und Autonomietheorien aus, die in der Forderung nach territorialer Selbstständigkeit so genannter Volksgruppen gipfeln. „Volksgruppen“: das ist der zentrale Begriff der Taktik der deutschen Außenpolitik seit den zwanziger Jahren. Sie zerlegt, zuerst theoretisch, die Bevölkerung der interessierenden Staaten in Stammesteile, in Polen z.B. in zwölf „Volksgruppen“, in Rumänien in 21, und in Russland gar in 43 Ethnien, von denen eine jede das angebliche Recht auf einen eigenen Staat habe: Jugoslawien bringt es nach deutscher Rechnung schon damals auf cirka 16 „Volksgruppen“. „Volk“ heißt: die Kroaten versus die Serben, niemals die Jugoslawen. Die „Volksgruppen“ müssten das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in Anspruch nehmen, heißt es – eine totale, absichtliche Konfusion des internationalen Rechts, denn das internationale Recht versteht unter dem Begriff „Volk“ immer und ausschließlich die in einem souveränen Staat zusammengeschlossenen Bevölkerungsteile, aber niemals Minderheiten oder so genannte Volksgruppen. Indem man die Minderheiten zu „Völkern“ erklärte, hatte man eine sichere Voraussetzung geschaffen, Nationen mit hohem Minderheitenanteil durch Selbstzerfleischung zu erobern. An dieser Methodik ziviler Forcierung von Minderheitenproblemen vor allem in Ost- und Südosteuropa hat die Außenpolitik des NS-Reiches bruchlos angesetzt. Wiederum fehlte (bis 1936) eine ausreichende militärische Basis, so dass die Dienstbarmachung nationalistischer Widersprüche wie gerufen kam. Die rassische Desintegration ethnischer Prägung und sittlichen Vorwands wurde zur Spezialität des Staatssekretärs Ernst Freiherr v. Weizsäcker, der dabei mit den Separatisten ganz Europas zusammenarbeitete – von Konrad Henlein in der Tschechoslowakei bis zu Sepp Janko in Jugoslawien.

Das methodische Vorgehen war einfallslos, aber stets erfolgreich: Um auf eine ethnische Intervention einzustimmen, wurde die Öffentlichkeit mit Propagandaberichten hysterisiert, die den zu okkupierenden Staat des Unrechts an seinen „Minderheiten“ zieh. Die mediale Inszenierung, die bis zur Herstellung von abendfüllenden Spielfilmen ging, sollte die Bevölkerung auf Qual und Leiden der unterdrückten „Volksgruppen“ einstimmen und das Mitgefühl ins Unerträgliche steigern. Es wurden Sondermarken zur Unterstützung der unterdrückten „Volksgruppen“ in Polen gedruckt, Wunschkonzerte riefen zur humanitären Hilfe an zigtausenden Flüchtlingen auf, die unter dem Eindruck der Minderheitenpropaganda ihr Land verließen; die Presse überschlug sich mit Bildberichten von den Elendstrecks der unterdrückten „Volksgruppen“ an den Grenzen. Und für jede dieser so genannten Volksgruppen nahm die deutsche Außenpolitik eine „Befreiersendung“ in Anspruch, einen ethischen Auftrag ihrer fortschreitenden Expansion in Europa.

Gleichzeitig belieferte der deutsche Auslandsgeheimdienst die vom Auswärtigen Amt betreuten Separatisten mit Sprengstoff und Waffen. In der Tschechoslowakei flogen Brücken in die Luft, in Jugoslawien kam es zu Schießereien. Die fortschreitende Destabilisierung der bedrohten Länder und ihre militärischen Reaktionen dienten dem NS-Reich als neue Belege für eine unhaltbare Lage. Am Ende der mutwilligen Eskalationen ließ Reichskanzler Hitler deutsche Truppen einmarschieren.

Es sei hier daran erinnert, dass sowohl dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei als auch dem deutschen Überfall auf Jugoslawien eine Propagandalawine vorausging, deren Kern die Behauptung war, Deutschland müsse die bedrohten „Volksgruppen“ in beiden Ländern schützen.

Deswegen lautet meine zweite These: Die spezielle deutsche „Volksgruppen“- und Minderheitenpolitik steht am Übergang zwischen zivilen und militärischen Mitteln der Expansion. Wo die deutsche Außenpolitik mit dem Schutzanspruch ausländischer Minderheiten argumentiert – wie im 1. und vor Beginn des 2.Weltkriegs – bereitet sie ihre jeweils aggressivste Option vor.

Nach 1945 schien es undenkbar, dass sich die deutsche Politik ein weiteres Mal der europäischen „Volksgruppen“ und Minderheiten bedienen könnte. Eine mythisch und rassisch begründete Desintegration der ost- und südosteuropäischen Nationalstaaten war machtpolitisch unmöglich, denn es gab das, was man den „Eisernen Vorhang“ nannte. Wir wissen heute, dass die außenpolitischen Stäbe der „Volksgruppen“- und Minderheitenpolitik zwar ohne territoriale Handlungsfelder in Ost- und Südosteuropa blieben, aber von sämtlichen Bundesregierungen nach 1945 aus dem Bundeshaushalt finanziert wurden, so dass sie die speziell deutsche Methode der Expansion konservieren und – wo immer möglich – theoretisch sowie beim Gebrauch der taktischen Mittel vervollständigen konnten. Von den zahlreichen Vorfeldorganisationen des Auswärtigen Amtes nenne ich insbesondere die „Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen“ (FUEV), die das Hauptbuch der deutschen Minderheitentaktik fortschrieb. Die eher leise Bewahrung und experimentelle Anwendung ethnischer Zersetzungsarbeit hört 1991 auf. Nach dem Anschluss der DDR lässt sich ein Einschnitt erkennen, denn die entsprechenden Organisationen werden nun nicht mehr mit ein paar Millionen, sondern mit 20, 50, ja mit über 100 Millionen etatisiert. Das Arsenal wird geöffnet. Die Ministerien des vergrößerten Deutschland gründen neue Minderheitenorganisationen, etwa das „Europäische Zentrum für Minderheitenfragen“ (EZM), bei dessen Eröffnung im Jahr 1996 der Bonner Staatssekretär Kurt Schelter postuliert: „Die Bevölkerung der meisten Staaten Europas ist ethnisch nicht homogen.“ Man höre: „ethnisch nicht homogen“ Und weiter: „Mit dem Mehrheitsvolk leben nationale Minderheiten und Volksgruppen ... In vielen Ländern Europas gibt es noch ethnische Spannungen, lange schwelende Nationalitäten- und Völkerkonflikte ... Hinzu kommen neue Auseinandersetzungen, die entstehen, weil sich Menschen in ihrer besonderen ethnischen Identität in ihrem Staat nicht genügend geachtet und beachtet fühlen ... In diesem Spannungsbogen ist die Idee eines Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen entstanden. Denn wenn wir helfen wollen, diese Probleme zu lösen, dann müssen wir mehr wissen um die ethnischen Zusammenhänge und die Konfliktursachen ...“

Ethnische Homogenität, ethnische Identität, ethnische Zusammenhänge: hier ist das spezielle deutsche Muster voll aktiviert, die Strukturen treten organisatorisch an die Oberfläche. Rückblickend lautet die Frage, ob die Zersetzungsstrategie mit dem Blut, den Ethnien und den Minderheiten bereits 1996 in die militärische Phase überging. Hören wir den Direktor des so genannten Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen, einen Mann des Auswärtigen Amtes, der 1996 öffentlich ausführte: „Keine Minderheit sollte einer repressiven zentralisitischen Regierung ausgeliefert sein. In dieser Hinsicht müssen sogar souveräne Staaten das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft hinnehmen. In Fällen wie Kosovo kann die Eskalation der Spannungen zwischen den Volksgruppen nur auf diese Weise verhindert werden“. In diesen Ausführungen ist von Gewalt die Rede, euphemistisch als „Eingreifen“ zugunsten der Minderheiten Europas deklariert. Und wer es wissen wollte, konnte spätestens 1996 erfahren, worauf sich dieses Gewaltprogramm konzentrieren würde: auf das „Bekenntnis zum Volkstum“ und auf den Balkan. Die Blutskategorie „Volkstum“ floss 1996 aus der Feder eines „Volksgruppen“-Spezialisten, der in Jugoslawien sogleich einen entsprechenden Blutsträger fand: Zwei Millionen so genannter „Volksgruppen“-Albaner, in Wirklichkeit Bürger der Bundesrepublik Jugoslawien, in der jugoslawischen Teilrepublik Kosovo: „Der akuteste Krisenherd, der ... bald zur Explosion kommen wird, ist der Kosovo, dessen albanische Mehrheitsbevölkerung ... ihren Willen zur Sezession und einem eventuellen späteren Anschluss an Albanien eindeutig zum Ausdruck gebracht hat. Die historischen Gebietsansprüche der Serben müssen dem Recht auf Heimat der Albaner unzweifelhaft weichen ... Die geschlossenen albanischen Siedlungsgebiete im Kosovo grenzen unmittelbar an albanisches Staatsgebiet, so dass ein Anschluss ohne größere Schwierigkeiten möglich ist. Dies gilt im Prinzip auch für die albanischen Siedlungsgebiete in Mazedonien, im Süden Serbiens und in Montenegro.“ (Prof. Dr. Georg Brunner).

Über die Mittel beim „Anschluss“ von Minderheiten wie der so genannten Albaner sagt ein Kollege von Brunner namens Rainer Hofmann, ein anderer Wegbereiter der ethnischen Parzellierung Europas, der von der Bundesregierung bezahlt wird, „auch“ eine „gewaltsame- Ausübung des Selbstbestimmungsrechts mit dem Ziel der Errichtung eigener Staaten oder gewaltsamer Änderung von Grenzen“ ist zulässig. Diese Stimme aus dem „Europäischen Zentrum für Minderheitenfragen“, finanziert von der rot-grünen Bundesregierung sowie von der rot-grünen Landesregierung in Schleswig-Holstein, macht völlig klar: Der Übergang von zivilen Optionen deutscher Minderheitenpolitik auf militärische Optionen fand Mitte der 90iger Jahre statt. Dabei dient Südosteuropa, insbesondere Jugoslawien, als Exzerzierfeld, das zugleich den gesamten Balkan eröffnet.

Dies ist meine dritte These. Ich füge an: diese militärische Option hätte nach deutschen Vorstellungen noch nicht zur Anwendung kommen müssen und man hätte abwarten können, bis die aufgestachelte Selbstzerfleischung der Balkan-Nationalismen ganz Südosteuropa reif für eine möglichst friedliche, möglichst kostenneutrale Übernahme gemacht hätte. Dieser Weg der weiteren Parzellierung des Balkans durch ethnisch begründete Desintegration ist der deutschen Außenpolitik verstellt worden. Es sind die USA, die ihr letztes und einziges Mittel oktroyiert haben, um von ihrem europäischen Einfluss zu retten, was zu retten ist: the big stick, Sprengstoff und immer noch mehr Sprengstoff.

Ich glaube, das ist vergeblich. Am Ende dieses mörderischen Feuerwerks werden die Amerikaner als die Blamierten, als die Halunken dastehen und Deutschland wird sich an die Spitze eines so genannten Friedensprozesses stellen, der diesen Namen nicht verdient. Es geht um die wirtschaftliche Ausplünderung des gesamten Balkan. Was die deutsche Außenpolitik mit der Zerlegung Jugoslawiens in Territorialparzellen, mit der Gründung Kroatiens und Sloweniens begonnen hat, wird sie in ganz Ost- und Südosteuropa zu Ende führen. Das bedeutet Chaos und Krieg.

Jugoslawien war erst der Anfang.
 5. August 1999