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Susan Sontag
Feige waren ihre Mörder nicht
Susan Sontag 15. September 2001


Als entsetzte und traurige Amerikanerin und New Yorkerin scheint es mir, als sei Amerika niemals weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen als am letzten Dienstag, dem Tag, an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf uns einstürzte. Das Missverhältnis zwischen den Ereignissen und der Art und Weise, wie sie aufgenommen und verarbeitet wurden, auf der einen Seite und dem selbstgerechten Blödsinn und den dreisten Täuschungen praktisch aller Politiker (mit Ausnahme von Bürgermeister Giuliani) und Fernsehkommentatoren (ausgenommen Peter Jennings) auf der anderen Seite, ist alarmierend und deprimierend. Die Stimmen, die zuständig sind, wenn es gilt, ein solches Ereignis zu kommentieren, schienen sich zu einer Kampagne verschworen zu haben. Ihr Ziel: die Öffentlichkeit noch mehr zu verdummen.

Wo ist das Eingeständnis, dass es sich nicht um einen „feigen“ Angriff auf die „Zivilisation“, die „Freiheit“, die „Menschlichkeit“ oder die „freie Welt“ gehandelt hat, sondern um einen Angriff auf die Vereinigten Staaten, die einzige selbsternannte Supermacht der Welt; um einen Angriff, der als Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten unternommen wurde? Wie vielen Amerikanern ist bewusst, dass die Amerikaner immer noch Bomben auf den Irak werfen? Und wenn man das Wort „feige“ in den Mund nimmt, dann sollte es besser auf jene angewandt werden, die Vergeltungsschläge aus dem Himmel ausführen, und nicht auf jene, die bereit sind, selbst zu sterben, um andere zu töten. Wenn wir von Mut sprechen, der einzigen moralisch neutralen Tugend, dann kann man den Attentätern – was immer sonst auch über sie zu sagen wäre – eines nicht vorwerfen: dass sie Feiglinge seien.

Unsere politische Führung redet uns entschlossen ein, alles sei in Ordnung. Amerika fürchtet sich nicht. Unser Geist ist ungebrochen. „Sie“ werden aufgespürt und bestraft werden (wer immer „sie“ sind). Wir haben einen Präsidenten, der uns wie ein Roboter immer wieder versichert, dass Amerika nach wie vor aufrecht steht. Von vielen Personen des öffentlichen Lebens, die die Außenpolitik der Regierung Bush noch vor kurzem heftig kritisiert haben, ist jetzt nur noch eines zu hören: dass sie, gemeinsam mit dem gesamten amerikanischen Volk, vereint und furchtlos hinter dem Präsidenten stehen. Die Kommentatoren berichten, dass man sich in psychologischen Zentren um die Trauernden kümmert. Natürlich werden uns keine grässlichen Bilder davon gezeigt, was den Menschen zugestoßen ist, die im World Trade Center gearbeitet haben. Solche Bilder könnten uns ja entmutigen. Erst zwei Tage später, am Donnerstag (auch hier bildete Bürgermeister Guiliani wieder eine Ausnahme), wurden erste öffentliche Schätzungen über die Zahl der Opfer gewagt.

Es ist uns gesagt worden, dass alles in Ordnung ist oder zumindest wieder in Ordnung kommen wird, obwohl der Dienstag als Tag der Niedertracht in die Geschichte eingehen wird und Amerika sich nun im Krieg befindet. Nichts ist in Ordnung. Und nichts hat dieses Ereignis mit Pearl Harbor gemein. Es wird sehr gründlich nachgedacht werden müssen – und vielleicht hat man ja damit in Washington und anderswo schon begonnen – über das kolossale Versagen der amerikanischen Geheimdienste, die Zukunft der amerikanischen Politik besonders im Nahen Osten und über vernünftige militärische Verteidigungsprogramme für dieses Land. Es ist aber klar zu erkennen, dass unsere Führer – jene, die im Amt sind; jene, die ein Amt begehren; jene, die einmal im Amt waren – sich mit der willfährigen Unterstützung der Medien dazu entschlossen haben, der Öffentlichkeit nicht zuviel Wirklichkeit zuzumuten. Früher haben wir die einstimmig beklatschten und selbstgerechten Plattitüden sowjetischer Parteitage verachtet. Die Einstimmigkeit der frömmlerischen, realitätsverzerrenden Rhetorik fast aller Politiker und Kommentatoren in den Medien in diesen letzten Tagen ist einer Demokratie unwürdig.

Unsere politischen Häupter haben uns auch wissen lassen, dass sie ihre Aufgabe als Auftrag zur Manipulation begreifen: Vertrauensbildung und Management von Trauer und Leid. Politik, die Politik einer Demokratie – die Uneinigkeit und Widerspruch zur Folge hat und Offenheit fördert, ist durch Psychotherapie abgelöst worden. Lasst uns gemeinsam trauern. Aber lässt nicht zu, dass wir uns gemeinsam der Dummheit ergeben. Ein Körnchen historischen Bewusstseins könnte uns dabei helfen, das Geschehene und das Kommende zu verstehen. „Unser Land ist stark“, wird uns wieder und wieder gesagt. Ich finde dies nicht unbedingt tröstlich. Wer könnte bezweifeln, dass Amerika stark ist? Aber Stärke ist nicht alles, was Amerika jetzt zeigen muss.

Aus dem Amerikanischen von Julika Griem. Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag, Jahrgang 1933, wurde durch ihre Essaysammlung „Against Interpretation“ (1966) bekannt. Im letzten Jahr erschien ihr Roman „In America“. Sie gehört derzeit zu den Gästen der American Academy in Berlin, wo sie sich am 11. September aufhielt. Während sie auf die Möglichkeit, nach New York zurückzureisen, wartet, hat sie ihre Eindrücke zusammengefasst.
 15. September 2001