zurück | internationales


Die bolivarianische Revolution von
Hugo Chávez in Venezuela: Politik für die Armen
Günter Pohl junge Welt 15. September 2004


Ein Bericht über den Versuch, dem Neoliberalismus ein menschliches Modell entgegen zu setzen: Die bolivarianische Revolution von Hugo Chávez in Venezuela.

Das Elendsviertel säumt beide Seiten der Straße, die sich in engen Kurven den Berghang hinaufwindet. Die ärmlichen Behausungen sind gemauert, aber meist unverputzt. Unten im Tal ist die sechsspurige Autobahn zu erkennen, die die venezolanische Hauptstadt Caracas mit dem internationalen Flughafen verbindet, der unterhalb der Bergkette am karibischen Meer liegt. Der gegenüberliegende Hang ist wie ein Spiegelbild: Ein Elendsviertel neben dem anderen, auch an den steilsten Abhängen wurde gebaut.

Die Barrios, wie die Elendsviertel in Venezuela genannt werden, gehören zum „Municipio Libertador“, dem ärmsten und mit 1,9 Millionen Einwohnern größten Bezirk von Caracas.

In diesem Barrio kommen die neuen Sozialprogramme, die die Regierung von Präsident Hugo Chávez ins Leben rief, zum Einsatz. Das wichtigste dieser Programme hat das Ziel, den Menschen in den Elendvierteln eine Gesundheitsversorgung zu bieten.

Das Gesundheitsprogramm „Barrio Adentro“, übersetzt bedeutet es „Hinein ins Viertel“, vermittelt Ärzte dorthin, wo sie bislang kaum anzutreffen waren. Allein im Bezirk Libertador gibt es mittlerweile 625 Mediziner, von denen jeder rund 1 200 Menschen betreut. Ohne jeden Luxus wohnen die Ärzte in Gemeindezentren oder kommen bei gastfreundlichen Familien unter. Das von der Regierung finanzierte Programm ist allerdings auf die Unterstützung durch die Gemeindezentren vor Ort angewiesen, die von den lokalen Behörden und Freiwilligen organisiert werden. Sie planen den Einsatz der Ärzte und bringen das neue Angebot der Bevölkerung nahe. Das Gesundheitsprogramm „Barrio Adentro“ hat das ehrgeizige Ziel, mittelfristig nicht nur in der Hauptstadt, sondern in den Armenvierteln aller Landesteile Venezuelas eine medizinische Grundversorgung zu gewährleisten. 18 500 Ärzte werden dazu gebraucht, errechnete das Gesundheitsministerium. Angesichts einer Armutsquote von 80 Prozent und einem wenig entwickelten Gesundheitssystem ist dies nur mit ausländischer Hilfe möglich. Kuba, zu dem Venezuela seit der Regierungsübernahmen von Hugo Chávez 1998 enge Beziehungen geknüpft hat, leistet den wichtigsten Beitrag. Das sozialistische Land entsandte mehrere Tausend Ärzte nach Venezuela, die dort für jeweils zwei Jahre im Rahmen von „Barrio Adentro“ tätig sind.

Die konservative Opposition zu Präsident Hugo Chávez kritisiert diese Zusammenarbeit als „Kubanisierung“ Venezuelas und warnt vor einem sozialistischen Weg.

Innerhalb weniger Jahre sollen die kubanischen durch venezolanische Ärzte ersetzt werden. Bereits dieses Jahr sollen rund Eintausend junge Mediziner in das Programm „Barrio Adentro“ aufgenommen werden, so der offizielle Plan.

Sozialprogramme wie „Barrio Adentro“, die Alphabetisierungskampagne oder die Einrichtung von Billigmärkten in verarmten Wohngegenden sind das Markenzeichen der Regierung von Hugo Chávez. Der Präsident selbst und seine Anhänger bezeichnen diese Politik als „Bolivarianische Revolution“, als einen Prozess, der das gesamte gesellschaftliche Gefüge in Venezuela verändern wird. Dass er es ernst meint, hat Chávez von Anfang an unter Beweis gestellt: Nachdem er vor sechs Jahren mit breiter Mehrheit zum Staatsoberhaupt gewählt wurde, ließ er eine neue – für lateinamerikanische Verhältnisse überraschend fortschrittliche – Verfassung ausarbeiten. Eine Reihe neuer Gesetze stärkte die Position von Minderheiten und sozial Schwachen. Dazu er traute sich, einige Privilegien der Reichen und bislang Mächtigen anzutasten.

Seine Popularität hielt unvermindert an. Chávez gewann nicht nur mehrere Volksabstimmungen, sondern auch die erste Präsidentschaftswahl unter der bolivarianischen Verfassung in Jahr 2000. Offenbar kommt sein Kurs bei der verarmten Mehrheit im Land gut an. Sie stört sich auch nicht an seinem populistischen Politikstil und der mitunter recht derben Ausdrucksweise. Im Gegenteil, für viele ist der stämmige, etwas dunkelhäutige Chávez einer der ihren, ein Mann aus dem Volk, der nicht nur ihre Probleme kennt, sondern auch ihre Sprache spricht. Eben kein Vertreter jener Elite, die das reiche Erdölland Venezuela mittels Korruption und Bereicherung in ein Armenhaus verwandelte.

Venezuela ist das weltweit fünftgrößte Erdölexportland. Der Öl-Boom der 70er Jahre führte aber nicht zu nachhaltigem Wachstum – im Gegenteil: Die Petro-Milliarden flossen in Prestigeobjekte und bescherten den Staatsbediensteten und den Wohlhabenden unermesslichen Reichtum. Statt die Einnahmen zu investieren und eine eigene Wirtschaftskraft aufzubauen, ging Venezuela dazu über, alles, von Nahrungsmitteln bis zu Industriegütern, zu importieren. So hatte die Mehrheit im Land nichts von dem neuen Reichtum: Die Arbeitslosigkeit stieg auf über 20 Prozent, während weitere 55 Prozent nur im informellen Sektor Beschäftigung fanden. Die Verarmung der Venezolaner wie die Konzentration des Reichtums in den Händen weniger nahmen stetig zu.

Nicolás Maduro, Abgeordneter der Regierungsfraktion und Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung von 1999, ist überzeugt davon, dass in Venezuela eine Weichenstellung stattgefunden hat:

„Unser Projekt will nicht das einzige oder das beste sein. Es soll lediglich Venezuela voranbringen und dabei helfen, das neoliberale Modell abzulösen. Es geht darum, öffentliche Unternehmen und Bodenschätze wieder zum Wohl des Landes zu verwenden, vor allem die Erdölindustrie, aber auch Aluminium, Eisen und die Stromwirtschaft. Das Land muss gerecht verteilt werden, einschließlich des Zugangs zu Technik und Krediten. Denn es ist sinnlos, einem Bauern, der weder lesen noch schreiben kann, Land zu geben, ohne ihn auch mit Geld, Krediten und Maschinen auszustatten. Der Bildungsbereich muss ausgebaut werden, vor allem die Alphabetisierung mit dem Ziel, eine Million Kinder in das Schulsystem zu integrieren. Zugleich müssen die öffentlichen Universitäten gestärkt und ein neues Gesundheitssystem geschaffen werden. Mittelpunkt dieses neuen politischen Modells in Venezuela ist die neue Verfassung. Sie ist demokratisch, pluralistisch und alternativ, wobei das wichtigste die Partizipation, die Teilhabe der Menschen am politischen Leben ist. In unseren Augen kann Demokratie nicht repräsentativ sein, sie muss partizipativ sein.“

Anders die Opposition, die von politischen Parteien angeführt wird, die das Land 40 Jahre lang regierten, bis sie bei den jüngsten Wahlen in Bedeutungslosigkeit versanken. Hinzu kommen Unternehmerverbände, Lobbygruppen und Teile der katholischen Kirche. Ihre Anhängerschaft rekrutiert diese Opposition in den besseren Wohnvierteln, in den die Ablehnung von Chávez fast ebenso Konsens ist wie dessen Unterstützung in den Armenvierteln. Der wichtigste Trumpf der Opposition sind jedoch die zumeist privaten Medien, die klare politische Positionen einnehmen und ohne Umschweife zum Kampf gegen die Chávez-Regierung aufrufen.

Die Spaltung in zwei verfeindete Lager lähmt mittlerweile das ganze Land, die Wirtschaft stagniert und ein politischer Dialog findet kaum noch statt.

Die Fronten verhärteten sich im April 2001, als Teile der Opposition vergeblich versuchten, Chávez aus seinem Amt zu putschen. Ebenso erfolglos verlief der Versuch, den Präsidenten mittels eines Streiks und Aussperrungen in der Erdölindustrie in die Knie zu zwingen. Auch die Unterstützung der US-Regierung, der Chávez ebenfalls ein Dorn im Auge ist, half der Opposition nicht weiter.

Unter Vermittlung der Organisation Amerikanischer Staaten und des Jimmy-Carter-Zentrums gelang es schließlich, den Konflikt wieder auf die politische Ebene zu bringen. Seitdem ringen beide Seiten erbittert um die Durchführung eines Referendums zur Abwahl des Präsidenten – eine demokratische Errungenschaft, die erstmals in der neuen Verfassung vorgesehen ist. Doch eine Eskalation scheint vorprogrammiert. Demonstrationen pro und contra wechseln sich manchmal täglich ab. Immer wieder kommt es dabei zu Gewalttätigkeiten und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Seit im Mai eine ganze Kompanie kolumbianischer Paramilitärs in Venezuela aufflog, nimmt die Angst zu, dass die Auseinandersetzung zwischen Chavisten und Antichavisten bald auch mit Waffen geführt wird.

Umgerechnet 25 Millionen US-Dollar hat die Chávez-Regierung für das Alphabetisierungsprogramm „Yo sí puedo – Ja, ich kann“ ausgegeben. Mehrere Hunderttausend Menschen, Jugendliche, Erwachsene und manchmal auch Greise, haben seitdem Lesen und Schreiben gelernt. Noch dieses Jahr sollen die offiziell 1,2 Millionen Analphabeten in Venezuela das Programm durchlaufen haben. Für Leonela Relys geht es allerdings um mehr als nur einen quantitativen Erfolg:

Nach Angaben des Bildungsministeriums ist die „Misión Robinson“ nur der erste Schritt einer umfassenden Bildungsreform. Weitere Kampagnen wurden bereits auf den Weg gebracht: Nachhilfe für Jugendliche, die in der Schule nicht mitkommen, sowie das Angebot von Ausbildungs- und Studienplätzen. Höhepunkt der Reform ist kürzlich begonnene Aufbau der Bolivarianischen Universität, mit der das staatliche Hochschulsystem gestärkt werden soll.

Sozialprogramme, die sich unmittelbar im Lebensstandard niederschlagen, stoßen bei der verarmten Bevölkerung auf einhellige Unterstützung. Zum Beispiel die „Mercales“, Lebensmittelmärkte, in denen die Grundnahrungsmittel im Schnitt 30 Prozent billiger sind als im Supermarkt. In den Augen der Kritiker hingegen sind diese Mercales reine Propaganda: Sie seien ökonomisch unsinnig und nichts weiter als eine Gefälligkeit, um das Wohlwollen der Bevölkerung zu ergattern. An die neun Millionen Venezolaner sollen von den „Mercales“ profitieren. Und dies werde nicht durch Subventionen erreicht: Die Mercales kaufen direkt beim Erzeuger, im Inland oder im Ausland, ein und erzielen die günstigen Preise durch Ausschaltung der Zwischenhändler.

Es fällt auf, dass die meisten Oppositionellen kaum Vorschläge oder alternative Konzepte präsentieren. Wenn Chávez weg ist, wird alles gut, so ihr Credo. Aus Sicht des venezolanischen Vizepräsidenten Vicente Rangel geht es dieser Opposition auch gar nicht um eine andere politische Vision, sondern um die Sicherung ihrer Pfründe:

„Die Mächtigen und Reichen in diesem Land haben nie Steuern gezahlt. 90 Prozent der großen Unternehmen zahlten keine Steuern. Sie dazu zu bringen, Steuern zu zahlen, kommt schon einer Revolution gleich. Das ist es, was sie stört. Vierzig Jahre lang wurden die Wirtschaftsminister von den einflussreichen Unternehmerverbänden gestellt. Mit Chávez hat diese Praxis ein Ende gefunden. Und diese Leute rebellieren gegen Chávez, nicht weil er ihnen ihr Haus weggenommen hat, oder ihre Konten eingefroren oder ihnen ihr Land geraubt hat. ... Sie rebellieren, weil er ihnen die Macht genommen hat, die sie dazu nutzten, sich die Regierungen gefügig zu machen.“
 15. September 2004