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Auf dem Weg zur Weltmacht
Hermann Werle telegraph 16. Mai 2004


Bis 2010 soll Europa Weltwirtschaftsmacht Nummer eins werden

Ein Großteil der sozial- und wirtschaftspolitisch relevanten Gesetze findet ihren Ursprung auf Ebene der EU. Brüssel ist fern – die Institutionen und politischen Verfahrensweisen sind wenig bekannt und schwer zu durchschauen, so dass sich die Tragweite vieler Entscheidungen aus Brüssel hinter einer Nebelwand der Nicht- oder Desinformation verbirgt. Nicht nur in Deutschland, sondern europaweit sollen die bestehenden sozialen Sicherungssysteme zerschlagen werden, während die militärische Aufrüstung in der geplanten EU-Verfassung verankert werden soll. Hinter den Bestrebungen, aus der Regionalmacht Europa eine Weltmacht zu schmieden, stehen neben den führenden Verbänden der deutschen Industrie und Arbeitgeber (BDI und BDA), europäische Lobbyorganisationen und Denkfabriken.

Ob Standortdebatte oder Green Card, ob Ökosteuer, EU-Erweiterung oder Privatisierung, keines der Themen und keine der richtungweisenden politischen Entscheidungen der letzten Jahre ist ohne maßgebliche Einflussnahme der Spitzenverbände debattiert und schließlich im Sinne der Unternehmen entschieden worden. Als Ausgangspunkt der aktuellen innerdeutschen Debatten um Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist die maßgeblich vom BDI und seinem ‚Think Tank‘, dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), initiierte Diskussion um den „Standort Bundesrepublik“ anzusehen. Seit 1986 wird jeder Eingriff in das soziale Sicherungssystem, jeder Angriff auf die Löhne und jede Steuererleichterung für Unternehmen mit der angeblichen Standortschwäche der Bundesrepublik legitimiert. Nicht die Bedürfnisse der lohnabhängigen Bevölkerung sollen Maßstab sozialer Sicherung sein, sondern allein das, was die Wirtschaft bereit ist zu zahlen. Man könnte einwenden: So ist das doch schon immer gewesen! Die anstehenden ‚Reformen‘ der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zeigen allerdings, dass sich ein durch die Arbeitgeber- und Unternehmensverbände angetriebener Strukturwandel vollzieht, der viele soziale – bisher als selbstverständlich geltende – Standards für die Bundesrepublik grundsätzlich in Frage stellt. Ein Zwang zur Arbeit unter schlechtesten Bedingungen bei gleichzeitig wachsender Armut breiter Bevölkerungsschichten wird sich mit der Umsetzung der geplanten Entwürfe manifestieren, wie die massiv eingeschränkte Funktion der Gewerkschaften. Der im letzten Jahr gescheiterte Streik der IG Metall wurde von BDA-Präsident Dieter Hundt umgehend medienwirksam genutzt, um das Recht auf Streik grundsätzlich in Frage zu stellen. Damit sollen die Gewerkschaften, ihres wirkungsvollsten Kampfmittels beraubt, dauerhaft an die kurze Leine genommen werden und zu Bettelvereinen verkommen.


Sozialdarwinistische Reformbewegung

Der aktuelle Angriff auf die Gewerkschaften und Lohnabhängigen fügt sich in einen massiven Propagandafeldzug der Industrielobby ein. Dafür wurde vor knapp vier Jahren eigens die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) ins Leben gerufen. Finanziert wird die Initiative von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie, die bis Ende 2004 rund 50 Millionen Euro in das Projekt investieren wollen. Die Koordination liegt bei der Berolino PR-Gesellschaft, die dem Institut der Deutschen Wirtschaft angegliedert ist und vom früheren BDI-Pressesprecher Dieter Rath geleitet wird. Berolino und diverse PR-Agenturen verbreiten ihre Botschaften auf Plakatwänden und ganzseitigen Anzeigen: „So viel Sozialstaat ist unsozial“, meint Altbundespräsident Roman Herzog; Lothar Späth legt noch einen drauf und fordert in einer weiteren Anzeige: „Mehr Mut zur Ungleichheit!“. Wo immer es geht, werden von Wissenschaftlern, Politikern und Managern mit Hilfe zahlreicher Medien derlei Statements in die Öffentlichkeit kolportiert. Für n-tv, N24, aber auch den Hessischen Rundfunk und die ARD scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, den von den Verbänden propagierten Sozialdarwinismus bundesweit auszustrahlen. Angesichts der ökonomischen und sozialen Missstände, die diese Reformbewegung mitverursacht und gleichzeitig vertuschen will, biegen sich in vielerlei Hinsicht die Balken. Der Sozialabbau schreitet voran, während von neuen Arbeitsplätzen weit und breit keine Spur in Sicht ist. Die desaströse Pleite der größten Personal Service Agentur, Maatwerk, ist ein Beleg, dass trotz hoher staatlicher Subventionierung und dadurch ermöglichten Niedrigstlöhnen, keine neuen Jobs vom Himmel fallen. Folgen wir Dagmar Schipanski, Bildungsministerin in Thüringen und engagierte Botschafterin der INSM, für die sozial ist, „was Arbeitsplätze schafft“, so ist wohl der Umkehrschluss gestattet, dass besonders asozial die Konzerne sind, die in dieser schwierigen Situation trotz Niedriglohn und flexibler Arbeitszeiten nur an Profite und Aktienindex denken und weiterhin in großem Umfang Stellenabbau betreiben.

Einsichten dieser Art sind nicht sonderlich verbreitet – schon gar nicht mehr bei den Sozialdemokraten. Neben BDI, BDA, Leuten aus CDU/CSU/FDP/Grüne und dem Rechtsaußen Arnulf Baring, betätigen sich auch Sozialdemokraten in der INSM. ‚Superminister‘ Clement war ebenso für die Initiative aktiv wie der geschasste frühere Chef der Bundesanstalt für Arbeit Florian Gerster. Dieser brachte die Substanz der propagierten „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ im Gespräch mit der Berliner Zeitung vom 8. März letzten Jahres auf den Punkt: „Der Sozialpolitiker fragt, was braucht der in Not geratene Mensch? Dann definiert er Standards, die finanziert werden müssen. In einem hoch entwickelten Sozialstaat mit gravierenden Strukturproblemen wie dem unsrigen muss die Frage umgedreht werden: Wie viel Sozialstaat kann sich die Gesellschaft leisten?“


Alles schon gehabt

Mit ihrer Propagandaoffensive sind Gerster sowie seine neoliberalen Gesinnungskameraden und Kameradinnen der INSM nicht sonderlich originell, übernehmen sie doch im Kern die gleichen Positionen, die die Industrieverbände schon vor 80 Jahren formulierten: „Wie jede Politik ist auch die Sozialpolitik nur eine Politik des Möglichen, des Durchführbaren, des Tragbaren. Nicht allein der Gedanke, dass etwas ‚gut‘ oder ‚wünschenswert‘ ist, kann die Sozialpolitik bestimmen, sondern dazu muss die Gewissheit kommen, dass die zu treffende Maßnahme mit den vorhandenen Mitteln durchführbar ist und dass sie nicht andere, ebenso wichtige Volksglieder zum Schaden des Ganzen ungebührlich benachteiligt.“ Diese Worte des Konzernbarons Borsig, der seinerzeit Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände war, wurden 1924 in der Schriftenreihe des Reichsverband der Deutschen Industrie publiziert. Aus dem gleichen Haus, im Dezember 1929 vor dem Hintergrund der Krisenerscheinungen der kapitalistischen Welt, wurden die Forderungen der Industrie schon wesentlich forscher formuliert: „Die Sozialversicherung soll die wirklich Schutzbedürftigen und Notleidenden betreuen, eine unberechtigte, die Volksmoral schädigende Ausnutzung ihrer Einrichtungen aber verhindern.“ Zur Steuerpolitik heißt es: „Der Umbau der Finanzwirtschaft hat nach zwei Gesichtspunkten zu erfolgen: a) wesentliche Senkung der öffentlichen Ausgaben und Steuern, b) Beschaffung der Mittel, stärker als bisher, durch indirekte Besteuerung.“ Wer dächte da nicht an die rot-grüne Steuerpolitik oder die von Kanzler Schröder platzierte Faulenzerdebatte und den Worten seiner Agenda 2010-Rede vom 14. März 2003: „Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern -, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.“

Ein historischer Vergleich hinkt zweifelsohne an vielen Stellen, deutlich ist jedoch, dass sich an den grundsätzlichen Tendenzen der Auseinandersetzung nicht viel ändert. Ähnlich wie heute konnten die Verbände als stärkste Interessenvertretungen der großen Konzerne Mitte der 1920er Jahre angesichts kapitalistischer Krisenerscheinungen und steigender Arbeitslosenzahlen eine scharfe Offensive gegen die Interessen der Lohnabhängigen entfachen. Damals vor dem Hintergrund einer Phase, in der die Arbeiterklasse durch harte Kämpfe und hohen Blutzoll bedeutende Fortschritte erzielt hatte. Fortschritte, die ihre Wirkung bis in den derzeit zum Abschuss freigegebenen Sozialstaat entfalten konnten. Ein weiterer Unterschied ist freilich, dass die Sozialdemokratie nicht schon immer die Argumente der Unternehmerverbände übernommen hat. Schließlich dienten sowohl das Bismarcksche Sozialistengesetz von 1878 wie auch die wenige Jahre später erlassenen Gesetze zu den Sozialversicherungen nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche einst der Bekämpfung der Sozialdemokratie. Lang, lang ist‘s her – für die Sozialversicherungen lohnt es sich aber auch heute noch zu kämpfen, und ein Gesetz, welches „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vorgeht, wünscht man sich wohl bald wieder.


Arbeitsteilung

Um die engen Bande zwischen wirtschaftlichen und politischen Lenkern der Bundesrepublik besser zu verstehen, lohnt es, die Arbeitsteilung der Verbände und die personellen Verbindungen zu untersuchen. Die Verbandspolitik der Unternehmen entwickelte sich historisch an spezifischen Interessen. Eine größere Anzahl von Unternehmensverbänden entstand seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie waren überwiegend lokale Zusammenschlüsse, die sich mit Fragen des Verkehrs und der Tarife für Eisenbahnen und Schiffe beschäftigten. Mit der Gründung des deutschen Reichs vervielfachte sich die Anzahl der Verbände – Hauptgründungszweck war in dieser Zeit die Forderung nach Schutzzöllen, die anstelle von Freihandel Importzölle zum Schutz der einheimischen Wirtschaft erheben. Neben Vereinen wie dem der Süddeutschen Baumwollindustriellen oder der Deutschen Eisen- und Stahlindustriellen entstand mit dem Centralverband Deutscher Industrieller 1876 die einflussreichste Interessenvertretung der Industrie. Der Ruf nach wirksamer staatlicher Schutzzollpolitik wurde sowohl vom Centralverband als auch der Landwirtschaft gefordert und führte zur wirtschaftspolitischen Wende, der Bismarckschen Schutzzollpolitik. Mit Zuspitzung der sozialen Kämpfe und dem zeitgleichen „Sozialistengesetz“ entstanden zwischen 1880 und 1889 25 Arbeitgeberverbände als Kampforganisationen der Unternehmer gegen die Gewerkschaften. 1913 fusionierten diese Verbände zur Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (VDA), der Vorläuferorganisation der heutigen BDA. An der Aufgabenteilung hat sich bis heute nicht viel geändert. Während der BDI als Wirtschaftsverband in erster Linie als Lobby der Industrie auf die Politik und Öffentlichkeit einwirkt, sind die Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften und die gegenseitige finanzielle Unterstützung bei Streiks sowie Koordinierung von Aussperrungen die Haupttätigkeiten der BDA.

Diese grundsätzliche Aufgabenverteilung der Spitzenverbände darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Grundsatzfragen eine enge Abstimmung und Zusammenarbeit gibt, die sich nicht zuletzt in dem gemeinsam bezogenen „Haus der Wirtschaft“ widerspiegelt. In der Breiten Straße 21-29 in Berlin-Mitte haben BDI, BDA und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag eine gemeinsame Adresse, von der aus „ein neues Kapitel der Interessenvertretung für die deutsche Wirtschaft“ geschrieben werden soll, „deren Gemeinschaft nun auch unter einem gemeinsamen Dach seinen Ausdruck findet“, wie BDA-Chef Dieter Hundt zur Einweihung des Gebäudes am 12. November 1999 vermerkte.


Lobby der Großkonzerne

Rund 75 Prozent der deutschen Unternehmen sind über ihre jeweiligen Branchen- oder Fachverbände im BDI und BDA organisiert. Beide Spitzenverbände verfügen des Weiteren über Vertretungen in 15 Bundesländern sowie diverse Fachbereiche und Ausschüsse. Dadurch entsteht ein enges Geflecht von Einflusssphären auf der Ebene der Kommunen und Länder aber auch der Außenpolitik. Wenngleich die Mehrzahl der organisierten Unternehmen kleine und mittelständische Betriebe sind, dominieren die transnationalen Konzerne die Verbändepolitik. Präsidium und Vorstand des BDI gleichen einem who is who der deutschen Konzernfürsten: Neben dem Präsidenten Michael Rogowski finden sich dort unter anderem Ekkehard Schulz (Thyssen Krupp AG), Burckhard Bergmann (E.on/Ruhrgas), Ulrich Hartmann (E.on AG), Harry Roels (RWE AG), Jürgen Schrempp (Daimler Chrysler), Heinrich v. Pierer (Siemens AG), Ludolf v. Wartenberg (Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie und ehemaliger Staatssekretär) sowie der frühere Wirtschaftsminister Werner Müller (RAG Aktiengesellschaft). Auffallend ist neben der Konzerndominanz die personelle Verflechtung in die politische Sphäre, die mit dem Begriff der Deutschland AG umschrieben wird und als deren „Vorstandsvorsitzender“ sich Gerhard Schröder titulierte. Gemeinsam mit Minister Clement berief er im Juli drei Wirtschaftsführer der Deutschland AG in seinen engen Beraterstab: Klaus Mangold (Daimler Chrysler und Chef des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft im BDI), Heinrich v. Pierer und Jürgen Weber (Lufthansa AG) bekleiden seither das Amt des Beauftragten für Auslandsinvestitionen in Deutschland.

„Globalisierung hin, Entflechtung her – die Deutschland AG lebt“, schrieb das Manager-Magazin im Oktober 2002 und stellte fest: „Das Old Boys‘ Network funktioniert wie eh und je. Ein Kreis einflussreicher Männer – sorry, no ladies – dominiert die deutsche Wirtschaft.“ Nicht ganz falsch, möchte man dem Magazin beipflichten, welches über diverse offizielle und private Treffen zu berichten weiß. Zum Beispiel wenn Kanzler Schröder mit eben jenen einflussreichen Männern Geburtstage feiert oder im Luftwaffen-Airbus mit Siemens Chef von Pierer & Co. Karten drischt – „Rotwein und Cohibas stets in Reichweite“. Was allein fehlt an dieser Darstellung, ist die politische Tragweite dieser Männerkumpanei.


Vom gesellschaftlichen zum nationalen Interesse

Die so genannte „Deutschland AG“ bezeichnet die deutsche Version des Kapitalismus nach 1945. Um den inneren Frieden Nachkriegs-Westdeutschlands zu gewährleisten, wurde unter Einbeziehung gewerkschaftlicher Mitbestimmungsmöglichkeiten ein System geschaffen, welches wirtschaftliche Machtkonzentration einschränken sollte. Durch Aktienbesitz oder Eigentum konnten Staat, Länder und Kommunen direkten Einfluss auf den Beschäftigungsstand nehmen und die Grundversorgung in verschiedenen Bereichen wie Energie, Transport und Telekommunikation für weite Teile der Bevölkerung sicherstellen. Die enge Verflechtung zwischen Politik, Banken und Unternehmen bildete das Fundament der Sozialen Marktwirtschaft, deren sozialstaatliches Sicherungssystem der Sphäre der kapitalistischen Verwertung bislang weitgehend entzogen war. In diesem Sinne war das Wirtschaftssystem gesellschaftlichen Interessen verpflichtet. Den Unternehmen ging es dabei nicht schlecht, staatliche Subventionen, geringe Konkurrenz und die relative Abschottung des nationalen Wirtschaftsraums garantierten über lange Zeit satte Gewinne. Zudem waren ‚feindliche‘ Übernahmen auf Grund des geringen Streubesitzes, der politischen Kontrolle und des großen Einflusses der Finanzinstitute (insbesondere Deutsche Bank und Allianz) ausgeschlossen. In einigen strategischen Bereichen wie der Energie wird sich das auch nicht ändern. Gerne würden ausländische Konzerne im Prozess der wirtschaftlichen Konzentration größere Häppchen der deutschen Unternehmenslandschaft übernehmen. Konzerne wie RWE, E.ON/Ruhrgas oder ThyssenKrupp wurden aber mit politischer Unterstützung wie der Ministerentscheidung zur E.ON-Ruhrgas-Fusion aus strategischem Interesse zu Megakonzernen aufgebaut, um Deutschlands Rolle als politisch- ökonomische Großmacht zu stärken. Die von den Industrieverbänden beklagte angeblich zu schwache Investitionstätigkeit ausländischen Kapitals ist im Wesentlichen auf diese Abschirmung nach außen zurückzuführen und nicht auf zu hohe Steuer- oder Lohnkosten, wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und so genannte Wirtschaftsexperten immer wieder Glauben machen wollen.

Die Aufweichung des Systems der Deutschland AG ist trotz dieser Beschränkung unübersehbar. Mit der Orientierung auf den Shareholdervalue und der Expansion in den neuen Wirtschaftsräumen Osteuropas, Russlands und Asiens sind die transnational agierenden Unternehmen verstärkt bestrebt, sich jeglicher Fesseln staatlicher Regulation und gesellschaftlicher Verantwortung zu entledigen. Konzerne, die auf dem Weltmarkt bestehen wollen, und das können in den Schlüsselbereichen nur eine Hand voll, verfolgen aufmerksam den Aktienindex, scheren sich aber einen Dreck darum, wer links und rechts am Wegesrand liegen bleibt. Der Sozialstaat hat in dieser Logik seine Schuldigkeit getan, keineswegs aber der Nationalstaat und auch nicht das Netzwerk der Eliten aus Politik und Wirtschaft. Gesellschaftliche und soziale Interessen werden den Interessen der Wirtschaft geopfert und zu „nationalen Interessen“ deklariert. Frei nach dem Motto: ‚Es gibt keine Klassengegensätze mehr, es gibt nur noch Deutsche‘, lässt Kanzler Schröder kaum eine Gelegenheit aus – zum Beispiel bezüglich der deutschen Irak-Politik – diese Interessenslage in die Welt zu posaunen.
  • „Wir haben ein eigenes nationales Interesse an der Erweiterung – wirtschaftlich und politisch allemal. Europa und Deutschland – daran kann kein Zweifel bestehen – werden durch die Osterweiterung wirtschaftlich gewinnen, politisch wie ökonomisch.“ (Schröder, Dezember 2000)

  • „Es gibt auch keinen Streit darüber, dass wir ein nationales Interesse daran haben, dass die Türkei eine immer enger werdende Bindung an den Westen erfährt (...)“ (Schröder, Dezember 2002)

  • „Es ist mir wichtig, dass das klar wird. Die Deutschen sind auf dem Balkan, weil sie ein eigenes nationales Interesse an der Stabilität in der Region haben.“ (Schröder Bundestagsdebatte 29. September 2001)

Die Spur des Bodo Hombach

Für die Durchsetzung der Interessen auf dem Balkan kam der Schröder-Intimus Bodo Hombach zum Einsatz. Dessen steile Karriere begann in den 1970er Jahren in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und in der SPD. Er war Wahlkampfmanager für Ministerpräsident Rau und Landesgeschäftsführer der nordrhein-westfälischen SPD, bevor er 1991 einen Abstecher in die Wirtschaft unter anderem bei der Salzgitter Stahl AG unternahm. Von dort ging es wieder in die Politik, wo er unter Clement NRW-Wirtschaftsminister wurde, dann Wahlkampfberater Schröders und schließlich die Führung des Bundeskanzleramts übernahm. Mit seiner unternehmensfreundlichen Politik stieß Hombach in dieser Position zwar auf Widerstand innerhalb der SPD, es gelang ihm aber, mit Lafontaine den letzten unliebsamen ‚Reformbremser‘ aus der Regierungscrew zu entfernen.

Nachdem deutsche Truppen 1999 ein weiteres Mal in Jugoslawien einmarschiert waren, beförderte Kanzler Schröder seinen ‚besten Mann‘ zum EU-Sonderkoordinator für den Balkan-Stabilitätspakt. Sehr erfreut darüber zeigte sich die deutsche Industrie, deren Sprecher, der damalige BDI-Präsident Hans Olaf Henkel in einem Spiegel-Interview frohlockte: „Ohne Hombach hätte es die überfällige Kurskorrektur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht gegeben. Aber nun übernimmt er eine phantastische Aufgabe, und die deutsche Industrie wird künftig in Südosteuropa einen überaus kompetenten Ansprechpartner haben.“ Diese Einschätzung war wohl begründet. Osteuropa hat sich zu einem der bedeutendsten Investitionsfelder deutscher Unternehmen entwickelt. Mit einem Anteil von rund 17 Prozent führt Deutschland die Liste ausländischer Investoren bei Fusionen und Übernahmen in Mittel- und Osteuropa an, gefolgt von den USA (zwölf Prozent) und Frankreich (neun Prozent). Hombachs Engagement fand entsprechende Anerkennung. Für die Essener Westdeutsche Allgemeine Zeitung öffnete des Kanzlers Liebling die entscheidenden Türen des Pressemarkts, so dass die WAZ-Gruppe die führenden Zeitungen in Serbien und Montenegro besitzt und in Kroatien mit 70 Prozent der Zeitungen nahezu ein Monopol auf dem Pressemarkt hält. Aber auch in Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Griechenland beherrscht der Medienkonzern große Teile der Zeitungsmärkte. Der Balkankoordinator wechselte Ende 2001 folgerichtig direkt in die Geschäftsführung der WAZ-Gruppe. Nebenbei betätigt er sich als Botschafter der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ und der Bundesverband der Deutschen Industrie honorierte die Arbeit mit einem Präsidiumsplatz im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Diverse Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfe aus seiner Zeit in der NRW-SPD und bei Salzgitter tun der Musterkarriere des Bodo Hombach keinen Abbruch.


Das zweite Außenministerium

Im Ost-Ausschuss weiß sich Hombach in bester Gesellschaft. Neben Klaus Mangold (DaimlerChrysler), Burckhard Bergmann (E.ON/Ruhrgas) und diversen anderen Wirtschaftsgrößen trifft der Karrierist hier auf Otto Wolff von Amerongen, dem langjährigen Präsidenten des Ausschusses. Im August gratulierte Bundestagspräsident Thierse im Namen des deutschen Bundestags von Amerongen zum 85. Geburtstag – wohlweislich, dass dieser während des Nationalsozialismus mit der Ausplünderung jüdischer Vermögen Geschäfte gemacht hatte. Der mit diversen Orden Geehrte – unter anderem großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik – galt über Jahrzehnte als „heimlicher Osthandelsminister“ und „Diplomat der deutschen Wirtschaft“.

Außenpolitik, und das liegt in der Natur der Sache, ist für eine exportorientierte Industrie ein Feld von besonderem Interesse. Dementsprechend verfügt der BDI neben dem Ostausschuss über fünf weitere Regionalinitiativen, mit denen die globale Interessenssphäre der deutschen Industrie abgedeckt wird.

Als der rechte kolumbianische Staatspräsident Uribe auf seiner Europareise Mitte Februar 2004 natürlich auch in Berlin Station machte, um für seinen Kampf gegen den Terrorismus zu werben, gehörte selbstredend auch ein Empfang der Lateinamerika Initiative der deutschen Wirtschaft zum Programm.

Auslandsreisen des Kanzlers und Wirtschaftsministers werden nicht nur von großen Wirtschaftsdelegationen begleitet, es hat den Anschein als würden sie auch vom BDI angeregt und organisiert. Kurz nachdem Heinrich von Pierer, Vorsitzender des Asien-Pazifik-Ausschusses, im Januar 2003 die Idee einer Regierungsreise nach Südostasien aufbrachte, saßen Schröder, Clement und die Freunde aus der Wirtschaft auch schon gemeinsam im Flieger – bei oben erwähnten Cohibas und Rotwein. Ob nach China, Lateinamerika, Russland oder zuletzt in die Türkei, Schröder hat seine Freunde aus der Wirtschaft immer dabei.

So in etwa dürfte sich der Staatssekretär des Auswärtigen Amts Wolfgang Ischinger die „umfassende Zusammenarbeit“ zwischen Auswärtigem Dienst und deutscher Wirtschaft vorgestellt haben, als er seine Rede auf einem BDI-Symposium mit den Worten enden ließ: „Nutzen Sie die Ressource Auswärtiger Dienst – es ist Ihr Auswärtiger Dienst!“

Als am 20. März 2003 die Bombardierungen des Irak begannen, sahen viele Menschen in Gerhard Schröder einen Mann des Friedens. Skeptiker hielten das „Nein“ zum Krieg wenige Monate vor den Bundestagswahlen für ein taktisches Manöver, übersahen jedoch – zum Teil ebenfalls aus wahltaktischen Gründen – die deutliche Ablehnung der Industrie zu diesem Krieg. Die hatte sich nämlich kurz zuvor noch äußerst glamourös auf einer Industriemesse in Bagdad präsentiert. Deutsche Investitionen und das gute deutsch-irakische Wirtschaftsverhältnis sollte nicht durch einen Krieg in Mitleidenschaft gezogen werden, zumal die US-Dominanz nach dem Krieg vorprogrammiert war. Um Schadensbegrenzung des deutsch-(US)-amerikanischen Verhältnisses zu betreiben, organisierte der BDI sowohl vor als auch nach dem Krieg Krisentreffen in Deutschland und den USA mit Vertretern aus Wirtschaft und Politik aus beiden Ländern. Auch wenn es derzeit den Anschein hat, dass die Krise überwunden ist, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis zwischen EU und USA von gegensätzlichen Interessenslagen geprägt ist.


Lobbying auf EU-Ebene

Hintergrund des schwierigen Verhältnisses ist nicht zuletzt eine Ankündigung der EU aus dem Jahr 2000. Die europäischen Staats- und Regierungschefs verständigten sich mit der „Lissabon-Strategie“ auf das gemeinsame Ziel, Europa bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu gestalten – eine deutliche Kampfansage an die USA, deren globale Hegemonie in Frage gestellt werden soll.

Es ist somit auch keineswegs ein Zufall, dass Schröders Agenda – recht willkürlich wie es zunächst scheint – den Zusatz „2010“ erhielt. Die Agenda 2010 ist ein EU-Programm der Harmonisierung des europäischen Wirtschaftsraums unter der Kontrolle der Konzerne. Mit den gleichen Forderungen, mit denen BDI und BDA die deutsche Gesellschaft auf ihren neoliberalen Kurs eintrimmen, beherrscht die EU-Industrie-Lobby den Diskurs auf Ebene der EU: Lebenslanges Lernen, Investitionen in die Forschung, Privatisierung, Deregulierung, ‚Reform‘ der Steuer- und Sozialleistungssysteme sowie der Arbeitsmärkte etc.

Folgen wir den Ausführungen der Bundeszentrale für politische Bildung, so tummeln sich „mehr als 1000 Verbände, europäische Unternehmensvertretungen und Lobbyagenturen in Brüssel“. Im Heft 279 der Reihe „Informationen zur politischen Bildung“ (Auflage 920 000) werden auf 66 Seiten die Geschichte, Verträge und Institutionen der EU dargestellt. Auch dem EU-Lobbyismus sind einige Zeilen gewidmet. Einzig der Europäische Gewerkschaftsbund findet namentliche Erwähnung. Er ist einer der europäischen Sozialpartner, die „durch ihr Recht, Gesetzgebungsvorhaben der Kommission an sich zu ziehen und auf dem Verhandlungswege eine Entscheidung herbei zu führen, von ‚Einfluss-‘ zu ‚Entscheidungsträgern‘ aufgewertet wurden“. Das klingt recht demokratisch, verschleiert jedoch die realen Machtverhältnisse. Dem zahnlosen Gewerkschaftsbund stehen mit UNICE (Union of Industrial and Employers Confederations of Europe), ERT (European Round Table of Industrialists) und ESF (Europea Services Forum) drei höchst potente Unternehmensvertretungen gegenüber. Während die 1958 gegründete UNICE den Dachverband der Industrie- und Arbeitgeberverbände darstellt, ist der ERT ein elitärer Männerclub, dem 46 Vorstandsvorsitzende der größten europäischen Konzerne angehören. Mit acht Vertretern ist die deutsche Industrie am stärksten vertreten. Mit dem erst 1999 auf Initiative des damaligen EU-Handelskommissars gegründeten ESF ist eine Lobbygruppe entstanden, die im Rahmen der Welthandelsorganisation europäische Interessen in den Liberalisierungsverhandlungen im Dienstleistungsbereich (Finanzen, Versicherungen, Telekommunikation, Transport etc.) formulieren soll.

Hauptadressat der Lobbygruppen ist die Europäische Kommission, in deren Generaldirektionen und angegliederten Diensten rund 20 000 Beschäftigte arbeiten. Hier werden die Richtlinien und Verordnungen konzipiert, die für die Mitgliedsstaaten bindenden Charakter erhalten. Wie auf bundesdeutscher Ebene sind die Netzwerke zwischen Politik und Wirtschaft eng gestrickt und basieren häufig auf freundschaftlichen Beziehungen.


Die Rhein-Ruhr-Mafia

Deutsche Konzerne sind bestens auf dem europäischen Parkett platziert. An der Spitze von UNICE und ERT stehen mit dem BASF-Vorstandsvorsitzenden Jürgen Strube und dem Aufsichtsratsvorsitzenden und früheren Vorstandsvorsitzenden der ThyssenKrupp AG Gerhard Cromme derzeit zwei deutsche Konzernherren, die ihr Handwerk gründlich gelernt haben. Beide besetzen Aufsichtsratsposten in diversen deutschen Konzernen (Strube unter anderen bei Commerzbank und BMW; Cromme unter anderen bei Allianz, Springer, E.ON und Volkswagen) und sie verfügen über beste Kontakte zur Politik.

Cromme gilt als enger Vertrauter Wolfgang Clements und neben Ulrich Hartmann (E.ON) und Dietmar Kuhnt (RWE) als zentrale Persönlichkeit der „Rhein-Ruhr-Mafia“ (Manager Magazin). Cromme und Clement kennen sich seit vielen Jahren, saßen sie in Düsseldorf doch quasi in Sichtweite auf ihren gut gepolsterten Chef- Sesseln – Clement als Ministerpräsident, Cromme als ThyssenKrupp-Manager. Der strukturelle Umbau des Stahlkonzerns zum Megaproduzenten von Stahl und Investitionsgütern (Maschinen, Aufzüge, Schiffbau, Schienenfahrzeuge) mit weltweit über 190 000 MitarbeiterInnen geht ebenso auf das Engagement Clements zurück wie die Fusion mit Krupp und die Exportförderung und jahrelangen Subventionen des Bunds für den von ThyssenKrupp und Siemens entwickelten Transrapid. Clement wird bis heute nicht müde, das Projekt, das niemand so richtig will, weiterhin in Milliardenhöhe fördern zu wollen und anzupreisen als hinge sein Herzblut daran. Blut wird der ‚Superminister‘ wohl keines vergossen haben. Er macht sich lediglich die Sorgen, die sich jeder Unternehmer macht, wenn sein Produkt nicht den Marktinteressen entspricht. Als Kuratoriumsmitglieder der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sitzen Clement und Cromme im gleichen Boot. Mit 18,83 Prozent (Bilanz 2002) ist die Stiftung größter Einzelaktionär bei ThyssenKrupp und bestimmt somit maßgeblich die Geschicke des Konzerns.

„(...) ich kann keinem Historiker oder Wirtschaftswissenschaftler wünschen, dass er diesen ekelhaften Gegenstand noch einmal von den Quellen aus bearbeiten muss“, schrieb der renommierte, 1997 verstorbene DDR-Wissenschaftler Jürgen Kuczinsky, nachdem er sich Ende der 1940er Jahre eingehend den Unternehmerverbänden gewidmet hatte. Diese Aussage trifft auch heute noch zu, nur dass sich die Struktur des Untersuchungsgegenstandes auf europäische und globale Akteure sowie hochspezialisierte Denkfabriken ausgeweitet hat.


Weltmachtstreben

Formulieren die Lobbyverbände vom BDI bis ERT überwiegend die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitischen Spielregeln, so ist es die Aufgabe von staatlich und privat finanzierten Denkfabriken, strategische und geostrategische Planungen zu entwerfen. In der Bundesrepublik sind dies federführend die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und das Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP). Das 1995 an der Universität München gegründete Centrum wird überwiegend von der Bertelsmann Stiftung finanziert und ist insbesondere auf das Themenfeld der Europäischen Integration spezialisiert. Wichtige Beratungsfunktion erhält das Centrum dadurch für die deutsche Europapolitik, im Vorfeld von EU-Regierungskonferenzen darüber hinaus aber auch für die Europäische Kommission, wo gute Kontakte zur Generaldirektion Ia – Außenbeziehung – bestehen. Bei weitreichenden Entscheidungen, wie sie in diesem Jahr anstehen, kommt den Planungen des CAP somit eine Schlüsselrolle zu.

Drei bedeutsame Ereignisse stehen auf der diesjährigen Tagesordnung der Europäischen Union: Die EU-Erweiterung um zehn Staaten am 1. Mai, die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni und schließlich die gemeinsame Verfassung für den weltweit größten geschlossenen Wirtschaftsraum. Dessen Verabschiedung ist zunächst insbesondere an den Befürchtungen der polnischen Regierung gescheitert, dass mit der Verfassung eine deutsche Hegemonie für Ost- und Südosteuropa zementiert werden könnte.

Großraumplanungen aus deutschen Schubladen, unter anderem aus dem Hause des CAP in München bestätigen diese Befürchtungen durchaus.

„Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen.“

Wie weit diese vom Europäischen Rat 2000 in Lissabon beschlossene strategische Zielsetzung zu interpretieren ist, zeigen die Überlegungen des Direktors des CAP, Professor Werner Weidenfelds. Als Lenker des CAP und führendem Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gilt Weidenfeld als einer der einflussreichsten Politikberater Deutschlands.

„Die Bevölkerung der EU wird von heute 371 Millionen auf 539 Millionen anwachsen; etwa doppelt so viel wie die der USA. Ihre Fläche beträgt 5 097 000 Quadratkilometer, etwas mehr als die Hälfte der USA. Das Bruttosozialprodukt liegt um rund 15 Prozent höher als das der USA. Dieses Potenzial könnte also den Status einer Weltmacht definieren“, so der Professor. China, Russland und Indien verfügten zwar ebenfalls über große Potenziale, wären aber mit gravierenden Schwächen konfrontiert. „Im Vergleich zu diesen Akteuren kommt das Potenzial der Europäischen Union dem der Weltmacht USA am nächsten – ja es ist ihm in weiten Teilen sogar überlegen. Nicht erst seit 1989 ist das integrierte Europa eine Weltmacht im Werden. (...) Sie ist Magnet und treibende Kraft in der weltpolitisch bedeutsamen Neuordnung der sowjetischen Hinterlassenschaft; die Agenda der Nachbarschaftspolitik der EU umfasst Herausforderungen und Akteure von weltpolitischer Brisanz.“

Was nach Meinung des Strategen noch fehle, sei ein „operatives Zentrum“ und „vor allem ein strategisches Denken“. „Das Defizit an strategischem Denken erweist sich so als eigentliche Achillesferse Europas“ (alle Zitate aus Die Welt vom 8. März 2003). Aus einem Arbeitspapier des Osteuropa-Instituts der FU-Berlin geht hervor, dass das CAP seit Bestehen bemüht ist, den beklagten Mangel an strategischem Denken auszugleichen. Allein im ersten Halbjahr 1999 hat das Centrum an zwei wichtigen außenpolitischen Ereignissen maßgeblich mitgewirkt (Außenpolitikberatung in Deutschland, Herausgegeben von Klaus Segbers, 1999).

Ein von Weidenfeld und dem Verlag der Bertelsmann Stiftung 2001 herausgegebenem Strategiepapier „Jenseits der EU-Erweiterung“ beschäftigt sich ausschließlich mit dem „europäischen Integrationsraum“ nach der Osterweiterung und den neuen Nachbarschaften – Russland, Ukraine, Belarus. „Diese Nachbarschaften stellen stabilitätspolitische Herausforderungen dar, deren Ausmaß sich bisher noch kaum jemand verdeutlicht hat“, heißt es in der Einleitung. Als besonderes Gefahrenpotenzial wird Belarus ausgemacht. „Noch schwieriger als die Beziehungen zur Ukraine und Moldova gestaltet sich das Verhältnis zwischen Europa und Belarus. Die offizielle Außenpolitik des Lukaschenko-Regimes konzentriert sich auf die Intensivierung der Beziehungen zu Russland bis hin zu einer russisch-belarussischen Union.“ Ein Umsturz wird in dem Papier nicht direkt propagiert, beklagt wird aber das unzureichende Interesse der EU an der belorussischen Opposition, die „durch gezielte Unterstützung von außen auch vergrößert werden“ könnte. Beinahe bedauernd stellt das Strategiepapier fest, dass Belarus im Gegensatz zu den Minderheitenproblemen in Südosteuropa „über kein vergleichbares ethnisches Konfliktpotenzial“ verfügt.


Aus der geopolitischen Mottenkiste

Ein operatives Zentrum in Form eines europäischen Außenministeriums hätte mit der europäischen Verfassung entstehen sollen – und Fischer wäre gern der erste Unionsaußenminister geworden. Diese Pläne sind vorerst vom Tisch, keineswegs allerdings strategische Planungen, wie sie von Weidenfeld eingefordert werden. Längst hat die durch den Nationalsozialismus lange Zeit diskreditierte Geopolitik wieder Einzug im Auswärtigen Amt gehalten. Der Griff in die Mottenkiste deutscher Geostrategen scheint geradezu populär, so ähnlich sind die heutigen Konzeptionen. Detaillierte Pläne für einen Großraum, der frei von Zollbarrieren und mit gemeinsamer Währung die Weltmärkte beherrschen sollte, wurden seit den 10er Jahren intensiv diskutiert. Als einer der mächtigsten Wirtschaftsführer hielt der Aufsichtsratsvorsitzende der IG Farbenindustrie und Vorsitzende des Reichsverbandes der Deutschen Industrie Carl Duisberg 1931 eine Rede vor dem Bayerischen Industriellen-Verband, in der es unter anderem hieß: „Begonnen wurde diese Tendenz (nach größeren übernationalen Wirtschaftsräumen) äußerst zielbewusst in den Vereinigten Staaten, die mit Dollar und Gewehr nach Norden und insbesondere nach Mittel- und Südamerika ihre Einflusssphäre ausbreiten. (...) Erst ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Sofia wird Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zur Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf. Denn während überall in der Welt neue Wirtschaftsräume zur Aktivierung schreiten, während sich ein panamerikanischer, ein indischer, ein chinesischer Wirtschaftsraum vorbereitet, droht Europa durch seinen inneren Zwist immer mehr an Bedeutung zu verlieren, zumal Russland als mächtiger Wirtschaftsraum aus dem europäischen Gefüge ausgebrochen ist und England seine Interessen in seinem überseeischen Imperium gebunden sieht.“ Nur ein geeintes Europa sei also in der Lage, weltpolitisch Bedeutung zu erlangen. Deutschland käme die Führungsrolle zu, die die europäischen Nachbarn zu akzeptieren hätten. Zwar basierten diese Pläne nicht zwangsläufig auf Eroberungsfeldzügen, sie widersprachen den militärischen Expansionsbestrebungen der Nationalsozialisten aber auch nicht.


Fischers Avantgarde

In ihrem 1994 verfassten CDU-Strategiepapier „Überlegungen zur europäischen Politik“ ziehen Karl Lamers und Wolfgang Schäuble ihre Lehren aus dem verlorenen Krieg: „Die militärische, politische und moralische Katastrophe 1945 als Folge des letzten dieser Versuche (deutscher Hegemonieerrichtung) ließ Deutschland nicht nur erkennen, dass seine Kräfte hierzu nicht ausreichen, sie führte vor allem zu der Überzeugung, dass Sicherheit nur durch eine grundlegende Änderung des europäischen Staatensystems gewonnen werden kann, in dem Hegemonie weder möglich noch erstrebenswert erscheint.“

Dass Deutschland auch heute noch eine führende Rolle zu spielen habe, daran lassen die CDU-Strategen an anderer Stelle dennoch keinen Zweifel: „Der feste Kern hat die Aufgabe, den zentrifugalen Kräften in der immer größer werdenden Union ein starkes Zentrum entgegenzustellen und damit die Auseinanderentwicklung zwischen einer eher protektionismus-anfälligen Süd-West-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Frankreich und einer stärker dem freien Welthandel verpflichteten Nord-Ost-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Deutschland zu verhindern.“ Die rot-grüne Regierung hat das CDU-Papier zum europapolitischen Regierungsprogramm gemacht. Die von Schäuble und Lamers eingeforderte Achse Paris – Berlin verfestigte sich durch die geschlossene Position zum Irak-Krieg und auch ein Kerneuropa ist für Schröder und Fischer eine denkbare Option. Eine Etappe auf dem Weg zur Vollendung der politischen Union könnte nach Fischers Vorstellungen, die er im Mai 2000 der Öffentlichkeit vorstellte, „die Bildung eines Gravitationszentrums“ sein, welches „die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein“ solle. In der gleichen Rede hob Fischer die überragende Bedeutung der Osterweiterung hervor: „Gerade die deutsche Wirtschaft wird von der Erweiterung einen hohen Gewinn für Unternehmen und Beschäftigung davontragen. Deutschland muss daher weiter Anwalt einer zügigen Osterweiterung bleiben.“


Osteuropa im Visier

Schäuble war voll des Lobes für diese Rede Fischers und auch in den Vorstandsetagen deutscher Konzerne werden Fischers Worte mit Wohlwollen aufgenommen worden sein. Der Osten sei als „Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt“ hatten Schäuble und Lamers in ihrem Papier geschrieben und bereits zwei Jahre zuvor – 1992 – hatte der Siemens-Vorstand seine strategischen Ostpläne formuliert: „Mit den Kooperationen in Osteuropa verfolgen wir vor allem zwei strategische Ziele. Erstens sollen sie den Zugriff auf neue Märkte, insbesondere in Osteuropa verschaffen. Zweitens brauchen wir Niedriglohnstandorte, in denen wir so kostengünstig produzieren können, dass sich die Produkte auf den kaufkraftschwachen Ostmärkten absetzen lassen.“ Der heute noch amtierende Siemens-Chef von Pierer wurde 1995 noch deutlicher: „Die Personalkosten liegen in der CSFR gerade bei fünf bis zehn Prozent von denen in Deutschland. Die Leute sind gut ausgebildet, und es gibt dort eine gewachsene Industriekultur. Wenn wir jetzt noch die Produktivität steigern und die Qualität auf unser Niveau erhöhen, dann haben wir dort eine fast unangreifbare Wettbewerbsposition – und zwar für den Weltmarkt“ (zitiert nach isw report Nr. 23). Dass diese Rechnung offensichtlich aufgeht, zeigen die Erfolgsbilanzen des Konzerns, der bereits angekündigt hat, im Zuge der Osterweiterung weitere Teile seiner Software-Entwicklung und Fertigung dorthin verlagern zu wollen.

Aber nicht nur für Siemens verspricht Osteuropa ein lohnendes Geschäft zu werden. Großkonzerne wie RWE und E.ON/Ruhrgas sind seit Jahren auf Beutezug in den geöffneten Märkten des Ostens. Von kommunalen Wasserversorgern bis zu Staatsbetrieben wird aufgekauft, was sichere Rendite verspricht. E.ON, welches sich nach dem Ministerentscheid vor zwei Jahren den Erdgas-Riesen Ruhrgas einverleiben durfte, expandierte in den letzten Jahren zu Deutschlands größtem Energieversorger und bildet mit RWE auf dem deutschen Energiemarkt ein Duopol, welches – entgegen aller Beteuerungen der preissenkenden Wirkung durch Deregulierung – die Preise für Strom, Gas und Wasser nach oben treiben kann. Der Energieversorgung Europas kommt eine strategische Bedeutung zu, die im „Grünbuch – die Sicherheit der Energieversorgung der Union“ der Europäischen Kommission von Ende 2000 skizziert wird und eine drastisch ansteigende Importabhängigkeit prognostiziert. Der Rolle des Erdgases wird eine wachsende Bedeutung für die Energiesicherheit der EU beigemessen und bis zum Jahr 2020 mit einem Zuwachs von 60 Prozent gegenüber dem heutigen Verbrauch gerechnet. Bis zum Jahr 2030 soll die Hälfte des Stroms innerhalb der EU aus Erdgas erzeugt werden und neue Regionen an das Erdgasnetz angeschlossen werden. Vorgesehen – oder auch schon fertig gestellt – sind Gaspipelines quer durch Europa von Norwegen bis Portugal und darüber hinaus zu den Quellen in Algerien, Russland, Iran und anderen Ländern am Kaspischen Meer. „Geopolitisch betrachtet stammen 45 Prozent der Erdöleinfuhren aus dem Mittleren und Nahen Osten, 40 Prozent der Erdgaseinfuhren aus Russland, wobei die Europäische Union noch nicht über ausreichende Möglichkeiten verfügt, auf dem Weltmarkt Einfluss zu nehmen,“ resümiert das „Grünbuch“ und spekuliert dabei auf eine weltpolitische Rolle, die der Vormachtstellung der USA Paroli bieten kann. Vorgesehen sind Mindeststandards von Erdöl- und Gasvorräten, langfristige Lieferverträge aber vor allem die engere Anbindung Russlands.

Mit der Beteiligung von E.ON/Ruhrgas am weltweit größten Gasunternehmen Gazprom wird diese strategische Allianz mit Russland vorangetrieben, die mehr Unabhängigkeit von den – weitgehend von den USA kontrollierten – Ölreserven im arabischen Raum schaffen soll.


Sterben für Brüssel

Entsprechend der strategischen Bedeutung sitzt mit dem E.ON/Ruhrgas Aufsichtsratsvorsitzenden und Ex-Vorstandsvorsitzenden des Energieriesen Ulrich Hartmann in führender Position der Stiftung Wissenschaft und Politik. Das Institut wurde 1962 gegründet und ist durch die Zusammenführung mit anderen Forschungseinrichtungen inzwischen mit rund 120 Mitarbeitern zum größten außenpolitischen think tank Europas angewachsen. Zum 40jährigen Bestehen der SWP brachte Hartmann zum Ausdruck, wie sich SWP, Politik und Wirtschaft zu ergänzen haben: „Wenn unser Land heute als ein handlungsfähiger Partner in der Völkergemeinschaft agiert und als ein stabiler Faktor in einer Welt des Umbruchs anerkannt ist, so ist dies natürlich gerade auch aus Sicht international tätiger deutscher Unternehmen sehr zu begrüßen. (...) Wir brauchen also nicht weniger Politik, in einigen Bereichen brauchen wir sogar mehr Politik – und damit brauchen wir auch mehr Politikberatung.“ Etwas konkreter formuliert Friedemann Müller die Rolle der Politik in dem SWP-Arbeitspapier: „Sicherheit der Energieversorgung – Zu kompliziert für Europas Politiker?“ Dort heißt es: „Die Schaffung eines ausreichenden Maßes an Versorgungssicherheit für ein Land oder eine Region ist keine genuine Aufgabe von privaten Unternehmen, sondern Teil der Sicherheitspolitik.“ Da diese innerhalb der EU vernachlässigt würde, entstünde ein Vakuum der Zuständigkeit und einer Nichtwahrnehmung von deutschen bzw. europäischen Interessen, „wie sie in den USA undenkbar wäre“. Mit der jüngst vom „Hohen Vertreter der EU“, Javier Solana vorgelegten ersten Sicherheitsstrategie der EU, wird auch dieses Defizit bald überwunden sein und EU-Soldaten für Brüssel und europäische Konzerne in den Krieg ziehen und auf dem Feld der Ehre sterben.


Hermann Werle ist Politikwissenschaftler, lebt in Berlin und arbeitet als freier Autor für das MieterEcho, der Zeitung der Berliner Mieter Gemeinschaft.
 16. Mai 2004